Ersatzkindsyndrom: Lebst du schon oder funktionierst du noch?
Wurdest du geboren, um eine Lücke zu füllen? Oder lebst du, um dein eigenes Kapitel zu schreiben? Je nachdem, wie du diese Frage beantwortest, könnte es ein Gewinn für dich sein, ein wenig mehr über das Ersatzkindsyndrom zu erfahren.
Warum bin ich auf der Welt? Diese Frage, nicht philosophisch gestellt, sondern ganz real, erfordert einen kritischen Blick in unsere Biografie. Doch selbst dann lässt sich diese Frage nicht immer so leicht beantworten. Denn stille Aufträge, noch dazu, wenn sie unbewusst erteilt wurden, werden uns im wahrsten Wortsinne in die Wiege gelegt. Wir erhalten sie über Blicke, Berührungen, Stimmlagen, leises Seufzen. Über die Nervensysteme unserer Mutter, unseres Vaters, unserer Geschwister, mit denen wir in Resonanz gehen. Über den Hormoncocktail im Uterus.
Da, wo die Worte fehlen, können wir nur fühlen:
- Trauer, Scham und Schuld.
- Unsicherheit oder Wut, die unerklärlich scheinen.
- Ein Gefühl von Sicherheit und Stolz wiederum in Momenten, die anderen Menschen eher keine Freude bereiten würden.
- Den Drang, Dinge zu tun, die mit Vernunft nicht zu begründen sind.
- Ängste, die niemand nachvollziehen kann.
Ersatzkindsyndrom – was ist darunter zu verstehen?
Ein Kind, das von seiner Familie bewusst oder unbewusst den Auftrag erhält, einen verstorbenen oder nie geborenen Angehörigen zu ersetzen, wird in der Wissenschaft als Ersatzkind bezeichnet.
- Doch was bedeutet es für ein Kind, in der eigenen Familie eine Rolle innezuhaben, der man von Anfang an niemals gerecht werden kann?
- Was macht es mit einem Menschen, nie in seiner Individualität wahrgenommen, gespiegelt oder gar für diese geliebt zu werden?
- Wie überlebt ein Kind, das einen Schmerz tragen soll, den selbst Erwachsene nicht aushalten?
Würde man sie fragen, würden die meisten Eltern all dies wohl weit von sich weisen. Und tatsächlich handelt es sich hierbei zumeist um eine Dynamik, die unbewusst geschieht. Angestoßen von der ungeheuren Trauer der zuvor verwaisten Eltern, aufgenommen von einem in diese Trauer hineingeborenen Kind, das seine Eltern von Herzen liebt.
Der entsetzliche Schmerz, den verwaiste Eltern durchleben, ist in der Gesellschaft anerkannt. Kinder, die in diese Verzweiflung hineingeboren werden, werden nicht selten auch von jenen zum Schweigen gebracht, bei denen sie Hilfe suchen. Das Mitgefühl für die trauernden Eltern überschattet das Verständnis für das Kind und hemmt den Impuls, zu helfen. Das Kind hat weder die Möglichkeit, sich zu wehren, noch die, sich der Situation zu entziehen.
Forschungen zum Replacement Child Syndrome
Der Psychoanalytiker Albert C. Cain und seine Frau Barbara S. Cain erforschten und beschrieben die Folgen einer solchen Familienkonstellation bereits 1964 in ihrem Artikel „On Replacing a Child“. Sie beobachteten in den 1960er‑Jahren stark überbehütete, ängstliche oder regressiv verhaftete Kinder, deren Verhaltensmuster sich durch die unverarbeitete Trauer der Eltern erklären ließ.
1979 differenzierten Krell & Rabkin drei Typen von Rollen, in die ein Ersatzkind gedrängt werden kann: den „haunted“ (von Schuldschweigen umgebenen), den „bound“ (überkostbaren) und den „resurrected“ (als Wiedergeburt behandelten) Ersatzkind‑Typ. Neuere Studien, wie die 2023von Boro, Uygun & Dikec veröffentlichte, sprechen von „Wunderkindern“, „Trostkindern“ und „Sündenböcken“.
Schmerz, für den es keine Worte gibt
Trostspender, Wunderkind oder Sündenbock: Es steht außer Frage, dass das Kind in jeder dieser Rollen zum Scheitern verurteilt sein wird. Würde es sich hiervon jedoch befreien, wären die anderen Familienmitglieder wieder mit der geballten Wucht ihres Schmerzes konfrontiert. So nachvollziehbar daher eventuell die verzweifelte Gewalt sein mag, mit der das Kind in seiner Rolle gehalten wird, so fatal sind die Auswirkungen auf dessen Psyche.
Hinzu kommt in vielen Familien eine ausgesprochene Schweigekultur. Der Tod und die Todesumstände, die Trauer und alle anderen mit dem Verlust verbundenen Gefühle werden nicht angesprochen. Sie werden stattdessen tabuisiert, als Familiengeheimnis unter den Teppich gekehrt. All das Unausgesprochene jedoch geht nicht verloren, sondern es wird unerledigt und unverarbeitet auf das Kind übertragen. Die Folge ist ein transgenerationales Trauma, für das das Kind selbst noch nicht einmal die Chance erhält, es in Worte zu fassen.
Vielleicht ist es in diesem Zusammenhang kein Zufall: Auch nach mehr als sechzig Jahren ist das Ersatzkindsyndrom sowohl bei Fachleuten als auch in der Öffentlichkeit kaum bekannt. Die Betroffenen werden daher oft jahre- oder jahrzehntelang aufgrund von vermuteten Erkrankungen behandelt, deren Symptome denen des Ersatzkindsyndroms ähneln, während der Kern des Leidens nicht erkannt wird.
Wie äußert sich das Ersatzkindsyndrom?
- Eine sehr häufige Folge ist eine tiefgreifende Unsicherheit über die eigene Identität. Wer bin ich? Was erwarte ich von meinem Leben? Was ist mir wichtig? Oder auch: Wessen Leben lebe ich? Das Leben eines Ersatzkindes kann sich anfühlen, wie eine ewige Suche nach Heimat, ohne jemals anzukommen.
- Schuldgefühle. Ich lebe nur, weil du gestorben bist. Wenn es dich gäbe, gäbe es mich nicht. Wie kann es mir besser gehen als dir? Diese Schuldgefühle, auch Überlebensschuld genannt, sind denen von Holocaust- oder Kriegsüberlebenden ähnlich.
- Überanpassung, Dankbarkeit, überhaupt dazuzugehören, das Gefühl, nirgends willkommen zu sein, Angst vor Zurückweisung.
- Perfektionismus, die Überzeugung, niemals gut genug zu sein. Selbstzweifel.
- Parentifizierung, der verzweifelte Wunsch, die Eltern glücklich zu machen, Übernahme von Verantwortung, die ein Kind nicht tragen kann, Erwachsensein weit vor der Zeit
- Bindungs-, Trennungs- und Autonomiekonflikte
- Passive Todeswünsche, Suizidalität. Getragen von der Erfahrung: „Wenn man tot ist, lieben einen die Menschen mehr“.
- Angst, eigene Grenzen und Bedürfnisse wahrzunehmen, zu respektieren oder gar zu verteidigen.
- Anfälligkeit, erneut in missbräuchliche Strukturen zu geraten.
- Unterdrückte Wut, Autoaggression, Risikoverhalten.
- Depressionen, Psychosen.
- Körperliche Erkrankungen.
- Kinderlosigkeit.
All das, so betont die weltweit führende Ersatzkindforscherin Kristina E. Schellinski, ist keine Pathologie, sondern die Folge der enormen Anpassungsleistung, die Kinder in den beschriebenen Familiensystemen vornehmen mussten, um psychisch zu überleben. Sie erweiterte das Konzept von Cain analytisch‑jungianisch um die Frage, wie Erwachsene sich von der Stellvertreter‑Identität befreien und in ein eigenes, selbstbestimmtes und selbst-erfahrenes Leben treten können.
Ist es für ein Ersatzkind überhaupt möglich, sein eigenes Leben zu leben?
Ja, und das möchte ich hier aus eigener Erfahrung sagen: Das ist es. Carl Gustav Jung nennt dies Individuation.
„Das Privileg des Lebens ist es, der zu werden, der man ist.“
C. G. Jung
Wir alle, so Jung, tragen einen unverletzlichen Wesenskern in uns, der allen Rollenerwartungen und jedem Anpassungsdruck trotzt: Jung bezeichnet ihn als das Selbst. Dieses Selbst, so verschüttet es auch sein mag, drängt hervor, macht uns darauf aufmerksam, dass wir noch nicht authentisch leben. Es möchte entdeckt und gewürdigt werden.
Individuation ist ein Weg
Ein Sich-Befreien von all den Schichten, die Ersatzkinder über diesen authentischen Wesenskern legen mussten, um die ihnen aufgezwungene Rolle zu erfüllen. Das ist nicht einfach: All die Gewalt, all der Schmerz, die ganze unerfüllte Sehnsucht, endlich geliebt zu werden, die ein Ersatzkind in diese Rolle zwängten, haben ihre Spuren hinterlassen. Auf dem Weg zu ihrer wahren Identität begeben sich die zumeist dann schon erwachsenen Ersatzkinder auf eine wahre Heldenreise: durch Schluchten, in die sie nie blicken wollten und Dämonen entgegen, vor denen sie als Kind schreckliche Angst hatten.
Am Ende der Heldenreise wartet das echte Leben.
Bin ich ein Ersatzkind?
Das Ersatzkindsyndrom betrifft wesentlich mehr Menschen, als man denkt. Wir haben Kriege in Europa erlitten und erleiden sie noch, den Holocaust, Krankheiten, Verkehrstote – unzählige Verluste in unzähligen Familien.
Meine Eltern sprachen offen darüber, dass ich niemals existiert hätte, wenn mein Bruder zuvor nicht gestorben wäre. Das ist nicht immer der Fall. Doch ein Blick in die Familiengeschichte und ein ehrliches Nachfühlen kann bereits Anhaltspunkte geben.
Schon das Benennen kann entlasten: Ich bin ein Ersatzkind. Es bedeutet, endlich zu wissen, woher die Schwierigkeiten im Leben, die Verwirrung, die Unsicherheit und die Ängste stammen. Schuldgefühle, die andere Menschen nicht zu kennen scheinen. Wut, die einem Angst machen kann.
Der Weg lohnt sich. Auch wenn die Schritte mit Schmerz verbunden sein können: Jeder einzelne von ihnen ist ein Schritt zu mehr Freiheit und Selbstbestimmung. Zu mehr Echtheit. Zu mehr Spüren. Ja, es sind auch Schritte hin zu mehr echter Liebe zu uns selbst und anderen.
Lass dein Leben nicht länger auf der Ersatzbank warten. Umarme es, feiere es! Du bist es wert.

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