Praxisleitfaden für Ersatzkinder: Freiheit von Manipulation durch Schuld

Ein kleiner Junge trägt einen viel zu schweren Rucksack mit Büchern und Spielzeug einen Berg hinauf, müde und traurig. Schuldgefühle plagen besonders Ersatzkinder und machen sie anfällig für eine Manipulation mit Schuld.
Lesedauer 11 Minuten

Selbstverteidigung gegen Manipulation durch Schuldgefühle: Ein Praxisleitfaden speziell für Ersatzkinder

Dass Menschen ihre Umwelt manipulieren, in dem sie anderen Vorwürfe machen und Schuldgefühle einreden, ist keine Seltenheit. Das ist in seiner Einfachheit und Wirksamkeit auch zu verführerisch. Ja, ich wage mal die Behauptung, jeder hat in seinem Leben auf die eine oder andere Art schon mal Schuld benutzt, um den eigenen Zielen ein wenig näher zu kommen. Sei es in einer Partnerschaft, der Arbeitswelt oder der eigenen Familie.

Ich habe vor ein paar Tagen in meiner Anleitung Manipulation über Schuldgefühle in sieben Schritten beenden auf der Webseite sinn-und-werte.com beschrieben, was generell helfen kann,  nicht so schnell auf das Schwarze-Peter-Spiel der Schuldmanipulation hereinzufallen. Denn das passiert nicht nur Ersatzkindern. Ich glaube jedoch, dass wir Ersatzkinder regelrechte Schuld-Magneten sind, und dementsprechend gefährdeter für Manipulationsversuche aller Art. Darum soll es hier in diesem Artikel ganz speziell um Menschen gehen, die vom Ersatzkindsyndrom betroffen sind. Was macht uns so besonders anfällig? Und wie können wir uns gezielt aus der Schuld-Falle befreien?

Warum Ersatzkinder fremde Schuld und Schuldgefühle magisch anzuziehen scheinen

Es begleitet mich seit dem Klassenzimmer in der Grundschule oder vielleicht auch schon länger: Hatte irgendjemand etwas ausgefressen, richteten sich die Vorwürfe der Lehrer schnell an mich. Ich verstand es damals nicht. Heute weiß ich: Ich strahlte etwas aus, das ihnen das Signal gab: Frances war’s bestimmt. Ich war es nicht. Aber mein Gesicht wurde rot, ich senkte die Schultern und bald fühlte ich mich genau so, wie diese Erwachsenen mich sahen: schuldig im Sinne der Anklage.

Vielleicht kennst auch du es: das ständige Gefühl, irgendwie schuldig zu sein. Einfach so, wie aus dem Nichts. Da braucht es noch nicht einmal einen konkreten Anlass, manchmal nur eine Erinnerung. Eine vage Schuld sucht dich heim, ganz ohne offensichtlichen Grund. Manchmal reicht ein Blick, ein Schweigen oder ein beiläufiges Wort, und sofort meldet sich die innere Stimme: „Ich habe wieder etwas falsch gemacht.“

Die bittere und letztlich auch entlastende Wahrheit aber ist: Diese Schuld gehört oft gar nicht zu dir. Es handelt sich um Gefühle, die du, die wir,  aus unserer Familiengeschichte übernommen haben. Aus Schmerz, der nicht ausgesprochen wurde oder aus den Erwartungen der Eltern, die niemand erfüllen konnte: Dein Geschwisterkind fehlte, und irgendjemand musste daran schuld sein. Und dann wurde diese Schuld stillschweigend auf dich übertragen, als wärst du für die Lücke verantwortlich.

Der Psychoanalytiker Mathias Hirsch beschreibt dieses Phänomen in seinem Buch Schuld und Schuldgefühl treffend, wenn er erklärt, dass Kinder die Schuld ihrer Eltern unbewusst in sich aufnehmen. Für Ersatzkinder bedeutet das: Sie fühlen sich nicht schuldig, weil sie etwas getan haben. Sondern weil sie die Schuldgefühle ihrer Angehörigen stellvertretend tragen. (Auf die Überlebensschuld, die noch zu diesen übernommenen Schuldgefühlen dazukommt, werde ich in einem anderen Beitrag genauer eingehen.)

Dieser Artikel zeigt dir Schritt für Schritt, wie du diese fremde Schuld erkennst, prüfst und zurückgibst. Und wie du dich dadurch auch vor der Schuldmanipulation durch andere Menschen schützen kannst.

Was fremde Schuld wirklich ist

Fremde Schuld ist wie ein Rucksack voller Steine, den dir jemand aufgesetzt hat, obwohl er nie dir gehörte. Sie stammt nicht aus deinem eigenen Handeln, sondern wurde dir von anderen zugeschrieben und/oder von dir unbewusst übernommen. Sie fühlt sich auf schreckliche Weise wahr an, ja manchmal sogar, als wäre sie ein Teil deiner Identität. Dabei ist sie nichts weiter als ein innerer Fremdkörper, den deine Seele in sich aufnahm, als du dich noch nicht wehren konntest.

Bei Ersatzkindern ist diese fremde Schuld keine Kleinigkeit. Wie Cain & Cain beschrieben, geht es auch hier nicht selten um Leben und Tod: „This new child is alive instead of our dead child. He has taken his place. This child is not our dead child, he was to be, it is his fault he is not. It isn’t fair that he should live and our other child die. He is responsible for all this, it is all his fault.“  (Cain & Cain, 1964, S. 448)

„Dieses neue Kind lebt anstelle unseres toten Kindes. Es hat seinen Platz eingenommen. Dieses Kind ist nicht unser totes Kind, es sollte es sein, es ist seine Schuld, dass es nicht da ist. Es ist nicht fair, dass es lebt und unser anderes Kind stirbt. Es ist für all das verantwortlich, es ist alles seine Schuld.“

Und du stehst da, liebst deine Eltern und möchtest von ihnen geliebt werden. Du kannst nicht kämpfen und nicht fliehen. Das Wohlwollen deiner Eltern ist für dich überlebenswichtig. Also nimmst du diese Schuld auf dich. Irgendjemand muss es ja tun.

Versuche, dir das einmal auf der Zunge zergehen zu lassen: Du fühlst dich, als wärst du für den Tod deines Bruders oder deiner Schwester verantwortlich. Für den Schmerz der Eltern. Für ein Leben, das sich nie entfalten darf. Und dann sollst du nicht Herzklopfen bekommen, wenn der Hausmeister fragt, wer den Fußball durchs Fenster geschossen hat?

Ein kleines Mädchen kämpft mit der Last eines viel zu großen Rucksacks. Es kommt kaum den Berg herauf. Ersatzkinder neigen dazu, Schuld anzunehmen, die gar nicht ihre ist.

Warum Ersatzkinder besonders anfällig sind, bereitwillig fremde Schuld anzunehmen

Ersatzkinder wachsen mit einer unausgesprochenen Markierung auf, die Schellinski als „Stempel des Todes“ (2019, S. 10) bezeichnet: Sie leben, weil ein anderer gestorben ist. Schon das macht Überlebensschuld und sorgt dafür, dass Ersatzkinder auch anfällig fürSchuldgefühle sind, die ihnen eingeredet werden.

Ersatzkinder spüren, dass ihre Eltern sie sehen und mit ihnen gleichsam das tote Kind. Wer von beiden gemeint ist, das ist nicht immer klar. Was jedoch sicher ist: Es ist das Ersatzkind selbst, dieser kleine Mensch der lebt und real vor seinen Eltern steht, der so dringend auf die Bindung angewiesen ist. Und wenn Schuld das Bindeglied zu Mama und Papa ist, ja dann nehmen sie eben die. Lieber Schuld und Verbindung als Einsamkeit und Kälte. Chris Paul beschreibt in ihrem Buch Schuld – Macht – Sinn (2010, S. 69), wie Schuld gerade in der Trauer eine besondere Rolle für die Bindung innehat.

Für Ersatzkinder bedeutet das: Sie werden in eine Familie hineingeboren oder wachsen in einer Familie auf, in der Schuld wie die Luft zum Atmen dazugehört. Sie erleben sie bei ihren Eltern, sie übernehmen sie selbst, um den anderen zu entlasten. Schuldgefühle sind Ersatzkindern so vertraut, dass sie kaum hinterfragen, ob sie überhaupt gerechtfertigt ist.

Lange bevor ich mich mit dem Ersatzkindsyndrom befasste, war ich einmal Zuschauerin bei einer Familienaufstellung. Aufgestellt wurde gerade ein völlig zerrüttetes System von Menschen, die sich gegenseitig mit ausgesprochenen und unausgesprochenen Vorwürfen zerfleischten. Da schaute der Aufsteller zu mir und bat mich, ins Feld zu gehen und eine Lösung herbeizuführen: Ich ging spontan in die Knie, beugte meinen Oberkörper auf den Boden und sagte: „Ihr könnt mir alles geben.“ Die aufgestellte Familie entspannte sich sofort. Einer der dortigen Stellvertreter sagte: „Ich weiß nicht, was das da ist. Aber es tut uns gut.“ Darin lag so viel: Ich war ein „Etwas“ ohne Gesicht. Auch nicht wirklich von Interesse. Ich brachte die gesamte Familie in Ordnung. Ich meinte stark genug zu sein, all das zu tragen. Und war sogar stolz darauf.

Das war ein Phänomen, das ich rückblickend in vielen Familienaufstellungen als Stellvertreterin erlebte: Auch wenn es sich nicht um meine eigenen Aufstellungen handelte, beinhalteten die Rollen, in die ich gewählt wurde, immer sehr viel von mir selbst.

Wenn Schuld für Manipulation genutzt wird

Wer mit Schuldgefühlen lebt, ist leicht manipulierbar. Sobald jemand sagt: „Du bist egoistisch“ oder „Du machst immer alles kaputt“, verstärkt das nur die alte innere Stimme, die längst schon da ist.

Matthias Hirsch schreibt in „Schuld und Schuldgefühl“ (2017, S. 43) von einem Basisschuldgefühl. Mit meinen Worten: Schon die Tatsache, dass du existierst, macht dich schuldig. Du bist, wie du bist. Und allein das ist unerhört. Genau hier liegt die Falle der Schuldmanipulation: Sie nutzt deine verletzlichste Stelle. Der Angriff geht nicht nur auf dein Verhalten, sondern er trifft dich direkt in deinem Sein. Und du sicherst wieder die Beziehung, indem du alle Schuld auf dich nimmst.

Nach über fünf Jahrzehnten Leben übernehme ich noch immer wie im Reflex die Schuld anderer Menschen. Ja, es ist fast so, als würde ich mich mit Schuld, die irgendwie im Raum steht und der sich niemand annimmt, so unwohl fühlen, dass ich sie lieber selbst trage als diese Unsicherheit auszuhalten: Schuld ist da, ich bin in der Lage sie zu nehmen, allen geht es gut. Und wenn es allen gut geht, dann geht es mir auch gut. Oder zumindest besser. Ich muss dann zwar mit dem Schuldrucksack irgendwie umgehen, aber wenigstens explodiert nicht das gesamte System.

Es ging soweit, dass ich sogar während meiner Erholungsphase nach einer Brustkrebsoperation im letzten Jahr bereitwillig die Schuld dafür übernommen habe, dass sich mein „Freundeskreis“ von meiner Krankheit so belastet fühlte. Während sie mich attackierten und behaupteten, die Krankheit zeige, dass ich von Dämonen oder gar dem Teufel besessen, wäre, fühlte ich mich noch immer dafür verantwortlich, Harmonie herzustellen und die Angreifer zu entlasten, indem ich alles auf mich nahm. Verrückt? Absolut. Und höchst ungesund natürlich auch. Aber schrecklich vertraut.

Man kann sich da zunächst einmal fragen, mit welchen Menschen ich mich überhaupt umgeben habe. Und aus welchem Grund. Und die dritte Frage wäre dann: Warum um alles in der Welt, habe ich das mit mir machen lassen? In der Tat hat mir dies Situation damals so hammerhart die Augen geöffnet, dass ich keine andere Wahl hatte als einmal hinzuschauen, was da eigentlich bei mir los ist.

Und ja. Genau hier geht es um Schuld, Schuldgefühle, die vertraute Rolle als Sündenbock und auch um eine tief verwurzelte Angst, dass andere Menschen an einer Schuld zerbrechen könnten, die ich ihnen hätte abnehmen müssen. Das ist doch schließlich mein Auftrag, oder?

Nein, das ist er natürlich nicht. Und das war er nie. Doch als Kind ist es überlebenswichtig, dass die Eltern nicht zerbrechen. Sobald Schuld im Raum steht und keiner sie übernimmt, das habe ich begriffen, bekomme ich regelrecht existenzielle Angst. Also schlucke ich lieber die Kröte. Damals war es eine Überlebenstechnik. Heute ist es Selbstverrat.

Denn auch das habe ich vor gar nicht allzu langer Zeit begriffen: Mein einziger Auftrag ist, für mich selbst Verantwortung zu übernehmen. Ganz egal, was das Gefühl noch vorgaukelt: Die Kindheit ist vorbei. Das ist die Realität. Und die ist bei Lichte betrachtet, gar nicht so schlecht. Die Kunst besteht nur darin, die Emotionen der Vergangenheit von den Tatsachen der Gegenwart zu trennen.

Ein erschöpfter Mann versucht, den großen Rucksack, den er als Kind getragen hat, weiter einen Berg hinaufzuschleppen. Die Schuldgefühle der Kindheit machen auch erwachsene Ersatzkinder immer noch anfällig für die Manipulation mit Schuld.

Selbstverteidigung gegen Schuldmanipulation und Schuldgefühle

Realitätscheck 1: Genau hinschauen. Was wird wirklich gesagt?

Für Ersatzkinder fühlt sich ein „Du hast einen Fehler gemacht!“ schnell an wie „Du bist falsch.“  Hier lohnt es sich, genau hinzuhören: Was wurde tatsächlich gesagt? Und was davon ist nur das Echo aus der Vergangenheit?

Wenn sofort tiefe existenzielle Schuldgefühle heranrollen, ist es sinnvoll, sich zunächst einmal zu orientieren. Vielleicht aufzuschreiben, wie die Aussage wörtlich formuliert war und sie mit etwas Abstand zu betrachten.

Realitätscheck 2: Was ist hier gemeint? Mein Sein, mein Handeln oder ganz was anderes?

Falls du dich nicht nur so fühlst, als würdest du persönlich angegriffen, sondern das tatsächlich der Fall ist, dann liegt der Schlüssel darin, den Unterschied zu erkennen: Echte Verantwortung kannst du für etwas übernehmen, das du getan hast oder immer noch tust. Zielt dein Gegenüber jedoch auf dich als Person, kann es sehr gut sein, dass du gerade zur Projektionsfläche geworden bist. Oder dass du manipuliert werden sollst und dabei ganz gemein an deiner tiefsten Verletzung angedockt wird.  Dann wäre die nächste Frage: Worum geht es wirklich? Und muss ich darauf überhaupt reagieren?

Realitätscheck 3: Ergibt dieses Schuldgefühl Sinn?

Um herauszufinden, ob ein Schuldgefühl wirklich deins ist, lohnt sich eine ehrliche Selbstprüfung.

Frag dich:

  • War ich dabei, als das Geschehene passierte?
  • Hatte ich irgendeine Möglichkeit, Einfluss zu nehmen?
  • Und geht es in diesem Vorwurf um etwas, das ich getan habe oder schlicht darum, dass ich existiere und so bin, wie ich bin?
  • Wem nutzt es, wenn ich Schuldgefühle entwickele? Und mit welchem Ziel?

Ein Satz meiner Mutter, der mich, wie ich später feststellte, mehr geprägt hatte, als mir lieb war, lautete: „Du solltest dich was schämen, so glücklich zu sein.“  Das hatte zur Folge, dass ich mir selbst meine schönsten Momente ruinierte. Denn ich war lieber unglücklich als beschämt. Damit wurde ich zwar schuldig an mir selbst und auch an denen, die mich liebten, aber Schuld ist ein Gefühl, das immer noch leichter zu ertragen ist als Scham. Sie gibt die Illusion von Handlungsfähigkeit.

Realitätscheck 4: Welchen Nutzen bietet mir dieses Schuldgefühl?

Das Fatale an übernommer Schuld ist, dass sie nicht nur eine Last ist, sondern auch eine Funktion erfüllt. Lieber Schuld spüren als Einsamkeit, Ohnmacht und Angst. Oder das Gefühl, gar nicht zu existieren.

Schuld stiftet Identität, legt Rollen fest und strukturiert das Zusammenleben. Fällt der Sündenbock aus dem Familienskript, bringt das das ganze System durcheinander. Und auch das kann ihm dann wieder zum Vorwurf gemacht werden. „Es war doch immer alles so schön! Du machst es kaputt.“  Und zack! Eine neue Schuldzuschreibung wird begründet: Du bist illoyal.

Aber – und jetzt kommt’s: Was habe ich denn davon, wenn ich diese Schuldzuschreibung ernst nehme? Aus irgendeinem Grund tue ich das ja.

Als Ersatzkind ist man ja schon froh darüber, wenn man mal wenigstens irgendeine Identität besitzt, die sich von der des toten Geschwisters unterscheidet. Ich habe irgendwann erkannt: Da mein verstorbener Bruder so idealisiert, so erfolgreich, so gelungen, so gut und regelrecht heilig war, konnte mir die Rolle der Hexe, der Versagerin, des Enfant Terribles und damit auch der Dauerschuldigen gar nicht extrem genug sein. Es war wie ein: „Mein Licht klaust du mir ja ohnehin. Aber in der Dunkelheit, da bin ich vor dir sicher. Da bin ich ich.“

Am Ende steht die Frage: Wenn ich nicht mehr die Schuldige bin, wer bin ich denn dann?

Realitätscheck 5: Welche Alternativen gibt es zum Schuldgefühl?

Wenn ich mich also von meiner Rolle des gerechten Opfers für die Familie lösen möchte, dann muss ich mich auch von den damit verbundenen Vorteilen verabschieden. Aber vielleicht gibt es ja etwas anderes, worauf ich stolz sein könnte? Und vielleicht kann ich die Verbindung zu meinen Verstorbenen auch halten, ohne ihre Last zu tragen?

Auch zu den Toten lässt sich eine innere Verbindung halten, die nicht auf Schuld fußen muss. Ich finde die Aussage so schön: „Trauer ist Liebe, die noch keinen Platz gefunden hat.“ Ist Liebe nicht ein viel wertvolleres Band?

Dazu aber gehört auch, den Schmerz des realen Verlustes erst einmal anzunehmen und die Trauer durchzufühlen. Das ist nicht schön, ganz und gar nicht. Und ich kann jeden verstehen, der davor zurückscheut. Ich habe es ja auch jahrzehntelang getan. Aber ich darf sagen: Es ist möglich. Der Schmerz dauert gar nicht so lange wie befürchtet. Und am Ende wartet eine warme innere Verbundenheit mit dem Verstorbenen, die das Leben bereichert.

Realitätscheck 6: Wo sitzt das Schuldgefühl? Im Kopf oder im Körper?

Reine Vernunft reicht hier nicht aus. Dein Verstand kann noch so oft sagen: „Das hier gehört mir nicht.“ Doch dieses Schuldgefühl ist schon so viel früher entstanden, als dass du es in Worte fassen könntest. Es ist in deinem Körper verankert, und der glaubt es nicht. Deshalb wirken Symbole und Rituale an dieser Stelle viel stärker als reine Überlegungen:

  • Schreibe das, was du für deine Schuld hältst, auf einen Zettel und verbrenne ihn anschließend.
  • Versenke einen Stein als Symbol für deine Schuld im Wasser.
  • Atme ganz bewusst mit dem Gedanken „Ich atme aus, was nicht zu mir gehört“.
  • Erkenne die Last an, die du stellvertretend getragen hast. Respektiere den Schmerz der anderen, denn Leid will gesehen und anerkannt sein. Und dann gib ab, was nicht zu dir gehört. Das kann ein Satz sein, wie: „Ich sehe euren Schmerz. Aber diese Schuld gehört euch, nicht mir. Ich gebe sie euch zurück.“

All das kann helfen, die unsichtbaren Fäden zu lösen. Ich finde es hilfreich, mich dabei immer wieder neu im Hier und Jetzt im Raum zu orientieren: Das ist meine Wohnung, hier bin ich sicher. Es ist das Jahr 2025, ich bin erwachsen. Wenn ich mich jetzt hilflos, ängstlich oder auch ohnmächtig-wütend wie ein Kind fühle, dann sind die Emotionen echt. Doch sie gehören in eine andere Zeit.

Diese Handlungen sind keine Magie. Sie sind eine Botschaft an dein Inneres, dass du die Last nicht länger tragen willst.

Realitiätscheck 7: Bin ich in der Gegenwart oder in der Vergangenheit?

Um dich in Zukunft dauerhaft vor Schuldmanipulation zu schützen, braucht es eine klare Haltung und etwas Übung. Das Wichtigste ist meiner Meinung nach, innezuhalten und einen klaren Kopf zu behalten, wenn Schuldgefühle das Steuer zu übernehmen drohen. Denk daran: Sie passen meist nicht zur Situation.

Statt sofort in das alte Muster zu fallen, verschaffe dir einen Augenblick Zeit, um die Gesamtsituation nüchtern zu betrachten und nachzudenken. Du wirst oft erkennen:  „Das dockt an mein altes Schuldgefühl an, aber die Zeit ist eine andere. Das ist nicht die Realität. Und nun schauen wir uns die erst einmal genauer an.“

Wie das konkret funktioniert, das habe ich hier beschrieben: Manipulation über Schuldgefühle in sieben Schritten beenden. Denke daran: Du bist erwachsen. Und dann verabschiedest du dich von all jenen, die dich – wieder einmal – für deine Rolle mögen und suchst dir stattdessen Beziehungen, die statt auf Vorwürfen nunmehr auf Liebe, Freundschaft, gemeinsamen Werten und auf Respekt basieren.

Du bist erwachsen. Du bist in Sicherheit. Du bist es wert.

In wenigen Sätzen

Schuldgefühle prägen das Leben vieler Ersatzkinder von Lebensbeginn an. Schuldmanipulation hält erwachsene Ersatzkinder in alten Mustern gefangen. Doch das Ersatzkindsyndrom ist kein immerwährendes Schicksal. Von anderen Menschen aufgeladene Schuld kann man erkennen, prüfen, sich von ihr lösen und sie an den Absender zurückgeben. Am Ende geht es nicht darum, für immer ohne jede Schuld zu sein. Aber wir gewinnen Freiheit von der Schuld, die nie zu uns gehörte. Das ist genug.

Ein Rucksack lehnt an einem Baum. Eine Silhouette von einem Erwachsenen, der nur mit kleinem Gepäck seinen Weg vom Betrachter weg geht. Schuldgefühle können wir auch als erwachsene Ersatzkinder hinter uns lassen, wenn wir uns bewusst machen, dass die vermeintliche Schuld nie unsere war.

In diesem Artikel verwendete Literatur

Alsdorf, F. (2017). Auswege aus dem Scham-Angst-Zyklus. Vortrag auf dem APS-Kongress, Kitzingen: IGNIS Akademie.

Cain, A. C., & Cain, B. (1964). On replacing a child. Journal of the American Academy of Child Psychiatry, 3(3), 443–456.

Hirsch, M. (2017). Schuld und Schuldgefühl: Zur Psychoanalyse von Trauma und Introjekt (7., überarb. Aufl.). Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht.

McLeod, S. (2025, February 21). Introjection as a defense mechanism. Simply Psychology. https://www.simplypsychology.org/introjection-defense-mechanism.html, zuletzt abgerufen am 11.09.2025

Paul, C. (2010). Schuld – Macht – Sinn: Arbeitsbuch für die Begleitung von Schuldfragen im Trauerprozess. Gütersloher Verlagshaus. ISBN 978-3-579-06833-6

Schellinski, K. E. (2019). Individuation for adult replacement children: Ways of coming into being. Abingdon, UK: Routledge.

Kommentar verfassen

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert

Nach oben scrollen
WordPress Cookie Hinweis von Real Cookie Banner