Schuld und Schuldgefühle bei Ersatzkindern: Der Tanz auf dem Vulkan
Ersatzkinder, Schuld und Schuldgefühle. Das ergibt eine explosive Mischung, die oft unter einem Lächeln verborgen unsichtbar bleibt. Denn wer als Kind den Platz eines verstorbenen oder nie geborenen Geschwisters einnimmt, startet ins Leben mit einem stillen Rucksack: einem Schuldgefühl, das niemand offen ausspricht. Und das um so tiefer wirkt: Ich lebe, weil du gestorben bist.
Schuldgefühle bei Ersatzkindern fühlen sich, so denke ich, anders an als bei Menschen mit sogenannten „normalen“ Biografien. Denn bei Ersatzkindern ist Schuld ganz eng verbunden mit einer Frage nach Leben und Tod. Schuldgefühle haben damit eine andere Dimension: Sie sind existenziell.
Viele Menschen, deren Leben mit dem Tod eines Familienmitglieds in einer Verbindung steht, spüren diese Last früh. Sie begleitet sie durch Familie, Beruf und Beziehungen. Schuldgefühle werden dabei nicht nur vom Kind gefühlt. Sie werden oft auch von der Umgebung benutzt: als Hebel um Anpassung zu erzwingen, als ein Mittel der Kontrolle. Und manchmal sabotieren sich Ersatzkinder auch selbst, weil die Schuldgefühle sonst unerträglich würden.
Während ich den Artikel schreibe, genau jetzt, wird mir bewusst, dass ich beispielsweise auf den Neid anderer Menschen niemals mit Stolz reagiere. Es noch nie getan habe. Schon gar nicht mit Freude oder noch mehr Motivation. Nein, ich reagiere mit Schuldgefühlen und dem dringenden Bedürfnis, ihnen ihren Seelenfrieden zurückzugeben. Auch, wenn ich dafür auf Erfolge verzichten muss, für die ich viele Jahre lang gearbeitet habe. Verrückt? Ja, total. Und ich bin froh, es heute erkannt zu haben. Bei aller Trauer, denn es erklärt so manches Scheitern in meinem Leben. Es war kein Versagen. Es war ein Zurücktreten, um anderen den Vortritt zu lassen. Schade. Das ist das Einzige, was ich noch bedauernd dazu sagen kann. Ändern kann ich es nicht mehr. Ich hoffe, nach dem Lesen dieses Artikels, wird dir das vielleicht nicht passieren.
In diesem Artikel geht es daher nicht um Schuld und Schuldgefühle im Allgemeinen. Dazu findest du umfassende Infos in einem umfassenden Ratgeber, der sich damit befasst, wie man sich aus der Schuldfalle befreit. Ich habe ihn in diesen Tagen auf der Webseite Sinn & Werte unter dem Titel Du bist schuld! Der ultimative Ratgeber gegen die Opfermasche veröffentlicht.
Hier jedoch geht es um etwas Spezifischeres: Es geht um die tiefen Schuldgefühle, die das Leben von Ersatzkindern begleiten. Wenn du dich für Ersatzkind-Dynamiken interessierst oder selbst Ersatzkind bist, dann möchte ich dich an dieser Stelle inspirieren, diese Schuldgefühle einmal anzusehen. Sie dann von echter Schuld, die mit Verantwortung einhergeht, zu unterscheiden. Schließlich all das, was nicht zu dir gehört, zu entwirren. Und dich schließlich davon zu befreien.
Leben, Tod und Schuld: In der Wiege liegt mehr, als nur das Ersatzkind
Wenn ein Kind in eine Familie hineingeboren wird, die noch mit einem schweren Verlust ringt – sei es durch eine Fehlgeburt, den Tod eines Kindes oder eine traumatisch verlorene Schwangerschaft –, dann bringt es oft mehr mit als nur neues Leben. Es bringt Hoffnung, aber auch eine stille Erwartung. Unausgesprochen steht im Raum: „Jetzt ist wieder jemand da. Jetzt wird es gut. Aber darf es das?“ Und genau darin liegt der Ursprung eines inneren Konflikts, der sich, da von Anfang an unausgesprochen, später nicht in Worte fassen lässt.
Aus psychodynamischer Sicht steht das Ersatzkind von Beginn an im Schatten eines innerlich „toten Objekts“. Green spricht hier von einer „Dead Mother“, einer seelisch für das Kind toten, da nicht erreichbaren Mutterfigur, die das neugeborene Kind von Anfang an, ja, sogar in utero prägt. Die Eltern sehnen sich nach Heilung. Und das Neugeborene soll sie bringen.
Was sich im Kind dadurch früh formt, ist kein bewusster Gedanke wie „Warum gerade ich?“oder „Wie stelle ich das an?“. Dafür ist es noch viel zu klein. Stattdessen findet es in den Blicken der Mutter oder anderer enger Bezugspersonen so viele widersprüchliche Gefühle, dass sich ein tiefes inneres Unbehagen einstellt:
- „Bin ich gewollt, so wie ich bin?“
- „Bin ich es, der/die hier gesehen wird? Oder jemand anderes?“
- „Bin ich wirklich ich? Oder ein anderer?“
- „Bin ich hier sicher, wenn ich bin, wie ich bin?“
Noch bevor ein klares Ich-Gefühl entsteht, spürt das Baby auf emotionaler Ebene, dass sein Dasein mit einem Verlust verbunden ist. Die Psychoanalytikerin Kristina Schellinski beschreibt ein Schuldgefühl, das sich bildet, bevor das Kind seine eigene Identität überhaupt formen kann.
Diese frühe Prägung bereitet den Boden für unterschiedliche Arten von Schuld, die sich später zeigen:
- Übernommene Schuld: „Ich muss die Trauer meiner Eltern mittragen.“ (Schellinski, 2019, S. 121)
- Vergleichsschuld: „Ich werde nie so perfekt sein wie das verlorene Kind.“ (ebd. S. 122)
- Selbstentfremdungsschuld: „Ich darf nicht ich selbst sein.“ (ebd. S. 121)
- Schuld aufgrund immenser unterdrückter Wut: „Egal, was ich tue, ich bin nie genug.“ (ebd. S. 121)
So wird schon die Geburt zu einem paradoxen Moment: Sie bringt Leben, und mit ihr gleichzeitig eine unausgesprochene Aufgabe. Und genau deshalb reagieren Ersatzkinder besonders stark auf Schuldzuweisungen. Nicht, weil sie mehr Fehler machen würden als andere, sondern weil jeder Schuldvorwurf sie an ihren ursprünglichen Platz im Familiensystem erinnert und sie mit einer offenen Rechnung konfrontiert, die sie niemals tilgen können. Sie ist wie ein inneres Echo, das sagt: „Du bist nur hier, weil jemand fehlt. Also mach es wieder gut.“

Vier Arten von Schuld – und wie sie Ersatzkinder prägen
Wenn du als Ersatzkind aufgewachsen bist, ist dir vielleicht niemand konkret mit Vorwürfen begegnet. Und trotzdem fühlt es sich oft so an, als hättest du dauernd etwas wiedergutzumachen – ohne genau zu wissen, was. Dieses Grundgefühl ist kein Zufall. Es basiert auf vier ineinandergreifenden Formen von Schuld, die sich bei vielen Ersatzkindern immer wieder zeigen.
„Ich lebe, weil jemand anderes gestorben ist“
Die wahrscheinlich tiefste und älteste Schuld ist die Überlebensschuld. Sie entsteht, wenn das Dasein direkt mit dem Verlust eines anderen Kindes verknüpft ist. Auch wenn das nie ausgesprochen wurde, spürst du: Ich bin nur hier, weil jemand anderes gestorben ist oder nie geboren wurde.
Diese Form der Schuld ist vergleichbar mit dem, was Psychotherapeut:innen bei Unfall- oder Kriegsüberlebenden beobachten: eine permanente innere Frage wie „Warum gerade ich?“
Die Folge ist oft ein unbewusster Pakt mit dem Schicksal: „Ich darf nicht zu glücklich, zu frei, zu erfolgreich, zu lebendig sein, denn sonst verrate ich das Kind, dessen Platz ich eingenommen habe.“
Meine Eltern haben es mir direkt ins Gesicht gesagt: „Du solltest dich schämen, so glücklich zu sein.“ Vielleicht war es sogar ein Segen, dass das genauso ausgesprochen wurde. So konnte ich mich bewusst damit auseinandersetzen und nach und nach eine eigene Haltung dazu entwickeln.
Andere Menschen spüren es, ohne es in Worte fassen zu können. Und was nicht bewusst gemacht wird, drängt auf andere Art und Weise ans Licht.
Dann äußert es sich vielleicht in:
- Selbstsabotage (z. B. Prokrastination, Dinge werden nicht zu Ende gebracht, Erfolge sabotiert, das eigene Licht stets unter den Scheffel gestellt)
- Pflichtgefühl bis zur Erschöpfung
- Unfähigkeit, Freude wirklich zuzulassen
Ich kann mich erinnern, dass ich oft eine Art masochistischen Triumph verspürte, wenn ich mich beim Sport bis über die Schmerzgrenze hinaus quälte oder irgendwann fast zusammenbrach, weil ich nächtelang durchgearbeitet habe. Es wäre so ein „Blut, Schweiß und Tränen“ Heldenepos, dachte ich. Dabei war es einfach nur so, dass ich mir selbst mein Glück nicht gönnte.
„Ich bin verantwortlich für die Gefühle der anderen“
Wenn Trauer in der Familie nicht offen kommuniziert wird, verwandelt sie sich oft in wortlose Schwere. Es ist die Welt, in die das Ersatzkind hineingeboren wird. Es kennt keine andere. Und doch ist da eine Sehnsucht nach Leichtigkeit und Glück. Und Liebe, ganz viel sogar davon. Ohne dass es je ausgesprochen wird, übernimmt das Ersatzkind die Aufgabe: „Ich muss dafür sorgen, dass es meinen Eltern wieder gut geht.“
Diese scheinbare Verantwortung ist nicht logisch erklärbar, sie wird emotional übernommen. Du spürst die Last denkst, sie wäre deine eigene. Und du entwickelst daraus oft:
- übermäßige Anpassung
- Verantwortung für die Stimmung anderer Menschen
- ein Gefühl, immer in der Pflicht zu sein, selbst wenn niemand das verlangt
- Schuldgefühle, sobald ein Mensch in der Umgebung unzufrieden oder unglücklich ist.
Diese introjizierte Schuld führt häufig zu einer tiefen inneren Anspannung. Doch was du tust, ist nie genug.
In meiner Ausbildung zur Systemischen Coachin wurde mir gesagt, ich hätte die ganze Zeit über die Funktion übernommen, das Bindeglied zwischen den lauten und den leisen Teilnehmer:innen zu sein. Es war mir nicht bewusst. Ich selbst hatte den Eindruck, der Gruppe würde es gar nicht auffallen, wenn ich fehlte.
Das Gegenteil war der Fall. Ohne es zu merken, hatte ich die Aufgabe übernommen, die Seminargruppe zu stabilisieren. So wie früher mein Familiensystem, das ich so dringend brauchte.
„Ich werde nie so perfekt sein wie das andere Kind“
Ein verdrängtes oder idealisiertes Geschwisterkind wirkt in der Familie oft wie ein Schatten, gegen den du nie gewinnen kannst. Das verlorene Kind bleibt perfekt, weil niemand seine weiter Entwicklung erlebte. Und wenn es Fehler hatte (und das hatte es ganz sicher), fehlen sie in der Erinnerung.
Du dagegen bist lebendig, echt, widersprüchlich. Und damit immer irgendwie nicht gut genug. Das erzeugt eine tückische Art von Schuldgefühl, denn dein Auftrag ist ja, das Fehlende zu ersetzen: „Ich bin nicht genug. Nicht still genug, nicht talentiert genug, nicht stark genug.“
Diese Vergleichs- oder Unzulänglichkeitsschuld zeigt sich oft in:
- chronischem Perfektionismus
- überhöhter Leistungsbereitschaft
- harscher Selbstkritik
- permanentem Konkurrenzverhalten
Der innere Vergleichsmaßstab ist dabei oft unbewusst, aber gnadenlos.
Auch hier kann, muss oder vielleicht darf ich auch sagen: Es wurde in meiner Familie kein Hehl daraus gemacht. Meine Erfolge wurden meist kommentiert mit: „Ach, schau, das ist aber schön. Das hätte der Jörg auch so gemacht.“ Meine Misserfolge hingegen ernten den Kommentar: „Wie seltsam, Jörg hatte damit keine Probleme.“
Im Podcast des Verbands freier Psychotherapeuten, Heilpraktiker für Psychotherapie und Psychologischer Berater formulierte ich es so: „Dein verstorbenes Geschwister macht alles, was du auch tust. Und es macht es immer besser als du.“
„Ich darf nicht ich selbst sein“
Wenn du dich dauerhaft an die Rolle des verstorbenen Kindes anpassen musst, verlierst du den Kontakt zu dir selbst. Kannst ihn vielleicht gar nicht entwickeln. Du merkst nicht, was du selbst willst, weil du immer damit beschäftigt bist, fremde Erwartungen zu erfüllen. „Ich fühle mich schuldig, wenn ich ich selbst bin.“ – Und ich fühle mich auch schuldig, weil ich nicht ich selbst bin.
Damit einher gehen Überzeugungen wie:
- Ich darf keine eigenen Bedürfnisse haben.
- Ich darf mich nicht abgrenzen.
- Ich bin egoistisch, wenn ich etwas nur für mich will.
Viele Ersatzkinder verwechseln dadurch gesunde Selbstfürsorge mit Rücksichtslosigkeit und bestrafen sich, wenn sie gut zu sich selbst sind. Häufig, ohne es bewusst zu merken.

Von Schuldgefühlen am Leben gehindert
Schuld ist nicht nur ein Gefühl. Schuld kann auch ein Werkzeug sein. Und wenn du als Ersatzkind früh gelernt hast, dass deine Existenz irgendwie etwas wiedergutmachen muss, dann ist Schuld oft der unsichtbare Faden, an dem alle anderen dich bewegen können.
Wie Schuld das Steuer übernimmt
Wer sich tief in der Pflicht fühlt, emotional „etwas gutmachen“ zu müssen, wird hochgradig empfänglich für subtile Schuld-Botschaften. Oft reicht schon ein Tonfall, ein enttäuschter Blick oder ein beiläufiger Kommentar, um das ganze Schuldkarussell wieder anzustoßen.
Dadurch können dich diese Sätze sofort treffen:
- „Du bist undankbar.“
- „Ich bin so von dir enttäuscht.“
- „Du machst uns Sorgen.“
- „Andere wären froh über das, was du hast.“
- „Du bist egoistisch.“
- „Das hätte ich aber nicht von dir gedacht.“
Klingt harmlos. Aber wenn du ein Schuldprogramm in dir trägst, wirken solche Sätze wie ein Trigger:
Zuerst kommt das Gefühl: Ich genüge nicht.
Dann die Angst: Ich könnte die Liebe verlieren, die ich so dringend brauche.
Dann die Reaktion: Ich muss mich anpassen.
Und das Spiel beginnt von vorn.
Diese Dynamik ist in der Psychologie als Scham-Angst-Zyklus bekannt (vgl. Alsdorf, 2017). Sie entsteht oft bei Menschen, deren Selbstwertgefühl eng an Zustimmung und Pflichtbewusstsein gekoppelt ist. Und genau das ist Ersatzkindern oft der Fall.
Beziehung und Beruf – die Bühne der Reinszenierungen
Diese Schuldlogik bleibt nicht auf die Herkunftsfamilie beschränkt. Sie wandert mit in Freundschaften, Partnerschaften und auch ins Berufsleben.
In der Liebe zeigt sich das oft so:
- Du fühlst dich verantwortlich für die Gefühle deines Gegenübers.
- Du kannst schlecht Grenzen setzen, ohne dich schuldig zu fühlen.
- Du landest (unbewusst) bei Partner:innen, die Schuld als Druckmittel nutzen und reagierst besonders empfindlich auf Rückzug, Vorwürfe oder emotionale Erpressung.
Sie sagen: „Wenn du mich lieben würdest, dann …“ Und du antwortest: „Ja natürlich, ich beweise es dir.“
Auch im Job setzt sich das fort:
- Du übernimmst zu viel.
- Du traust dich nicht, „Nein“ zu sagen.
- Du arbeitest über deine Grenzen hinaus, weil du niemanden enttäuschen willst.
- Du fühlst dich verantwortlich für das ganze Team.
- Du machst Überstunden ohne Gegenleistung.
- Und immer ist da diese leise Angst: Wenn jemand gehen muss, dann wird es dich treffen.
Diese Mechanismen sind kein Zufall. Sie folgen der inneren Logik des Ersatzkindes: „Ich bin verantwortlich, dass alles läuft. Und was ich leiste, ist nie genug.“
Wie du dein eigener Puppenspieler wirst
Je länger du in dieser Struktur lebst, desto mehr übernimmt ein Teil von dir selbst die Kontrolle. Er wird zum strengen Pflicht-Erfüller, der ständig prüft, ob du gut genug bist. Der spontane, lebendige Teil wird abgedrängt.
Das Ergebnis:
- Das Gefühl, schuld zu sein, zwingt dich in ständige Selbstkontrolle.
- Du brauchst keine äußere Stimme mehr, denn dein innerer Kritiker hat längst übernommen.
- Jede kleine Abweichung von Erwartungen löst sofort ein Gefühl von Schuld aus. Nein, kein kleines, das nach Wiedergutmachung ruft. Sondern ein existenzielles. Als hänge dein Leben davon ab.
Es macht dich unglaublich funktionsfähig. Und brennt dich aus.
Auch ich hatte die Kerze an beiden Enden angezündet. Und ich war gut, wirklich gut. Bis ich mit gerade einmal neununddreißig Jahren zusammenbrach.
Die gute Nachricht: Sobald du erkennst, wo diese Schuld-Strippen versteckt sind, kannst du auch anfangen, sie zu lockern. Der erste Schritt ist immer: bewusst wahrnehmen. Der zweite: neue Verantwortung klar zuordnen, sowohl dir selbst als auch anderen.
In meiner Erfahrung klingt das leichter, als es in der Praxis ist. Denn mich von Verantwortung zu trennen, ist bei mir nicht nur mit einem unguten Gefühl verbunden. Da gefühlt meine Existenzberechtigung von meiner Funktionsfähigkeit abhängt, ist jedes Abweichen von den Maßstäben tatsächlich mit Angst verbunden.
Noch heute fühlt es sich manchmal so an, als würden Fehler die Todesstrafe nach sich ziehen. Ich habe beschlossen, das dann einfach zu beobachten und auszuhalten. Irgendwann, hoffe ich, ist der Spuk vorbei.

Die Kehrseite: Wenn Ersatzkinder selbst Schuld als Instrument zur Manipulation einsetzen
Was du früh gelernt hast, gibst du oft weiter, ohne es zu merken. Wenn du als Ersatzkind dein Leben lang in Schuld verstrickt warst, kann es passieren, dass du irgendwann beginnst, die gleiche Dynamik auch nach außen zu tragen. Nicht aus Bosheit, sondern weil es sich anfühlt wie ein vertrauter Weg, um Nähe, Kontrolle oder Sicherheit herzustellen. Es ist das Muster, das wir kennen.
Psychologen und Psychoanalytiker beschreiben dieses Phänomen als „Identifikation mit dem Aggressor“: Wer sich ohnmächtig gefühlt hat, übernimmt irgendwann die Ansichten und Methoden derer, die Macht hatten. Auch wenn diese ihnen Schaden zufügen. Doch das ist immer noch besser, als die eigene Ohmacht zu spüren. So werden aus Opfern Täter.
Bei Ersatzkindern heißt das: Wer sich ständig schuldig fühlt, beginnt manchmal, auch andere Menschen schuldig zu sprechen. Wer durch Schuldgefühle gelenkt wurde, setzt sie dann ebenfalls ein, um seine Ziele zu erreichen.
Bindung über Schuldgefühle
Ersatzkinder haben oft gelernt, dass Liebe an Bedingungen geknüpft ist: „Wir lieben dich, wenn du unsere Erwartungen erfüllst.“
Diese Logik wird später oft in die eigenen Beziehungen übernommen.
Typische Anzeichen:
- Rücksichtslosigkeit wird angeprangert, auch wenn es nur um gesunde Abgrenzung geht
- Partner:innen oder Freund:innen wird subtil ein schlechtes Gewissen gemacht, wenn sie eigene Bedürfnisse haben
- Gefühle wie Enttäuschung oder Traurigkeit werden instrumentalisiert, um Bindung zu sichern
Beispiel:
„Du hättest ruhig an mich denken können.“
„Ich bin die Einzige, die sich immer kümmert.“
„Wenn dir wirklich etwas an mir liegen würde, …“
Diese Mechanismen wirken kurzfristig. Sie erzeugen emotionale Reaktionen. Aber sie schaffen keine echte Nähe, sondern Bindung durch Schuld. Menschen mit einer einigermaßen normalen oder reflektierten und für sich selbst geklärten Biografie befreien sich früher oder später daraus.
Als Kind konnte ich es nicht verstehen, wie meine Freundinnen sich einfach abwandten und mit anderen Kindern spielten, wenn ich sie so behandelte, wie ich es von zu Hause gewohnt war. Ich fand das illoyal und unerhört. Dass Menschen ein Recht haben, sich abzugrenzen, selbst zu entscheiden, wann, wie und mit wem sie gerade Spaß haben wollen, und dass sie sich nicht alles bieten lassen müssen, wusste ich nicht.
Bindungsschuld und Trennungsschuld
Der Psychoanalytiker Mathias Hirsch benennt zwei Arten von Schuldgefühl, die uns wie Kleister in Situationen halten, in denen wir uns schon lange nicht mehr wohlfühlen:
- „Ich muss mich anpassen, um niemanden zu verletzen.“
- „Ich fühle mich schuldig, wenn ich mich abgrenze.“
Beides sind Seiten derselben Medaille. Und wenn Ersatzkinder nicht gelernt haben, dass Autonomie nicht zwangläufig mit Liebesentzug einhergehen muss, versuchen sie oft unbewusst, auch andere an diese Dynamik zu binden: Wer sich nicht traut, unabhängig zu handeln, erzeugt oft Schuldgefühle bei anderen, wenn sie es tun.
Das führt zu Beziehungen, in denen Nähe nicht durch echte Verbindung entsteht, sondern durch emotionale Verstrickung.
Ich sage es ungern: Aber die – ich sage heute verrückte – Idee, ich wäre verantwortlich für das Glück aller Menschen, hat mich an vielen Stellen im wahrsten Sinne des Wortes in den Ruin geführt: Finanziell, weil ich der Meinung war, ich müsse für eine ganze Familie aufkommen, während mein damaliger Partner nicht arbeiten wollte.
Gesundheitlich, weil ich mir selbst keine Ruhepausen im Dienst für andere Menschen mehr gönnte. So lange, bis ich lebensgefährlich erkrankte. Und zum Grenzen setzen gezwungen war.
Der Dank, den ich sicher in all der scheinbar altruistischen Aufopferung doch insgeheim auch erwartete, blieb natürlich aus. Stattdessen erntete ich Unverständnis, weil ich nicht mehr funktionierte. Wem kann ich da einen Vorwurf machen? Ich hatte mich als wandelnder Geldautomat und stets nährende Mutterbrust angeboten. Punkt. Und meine Lektion gelernt.
Ich glaube, meine erste wirklich gesunde Partnerschaft konnte ich erst eingehen, nachdem ich selbst eine lange Zeit vollkommen allein im Ausland verbracht hatte. Auf einem Dorf auf einem anderen Kontinent, in einer fremden Sprache, umgeben von Menschen, die ich nicht kannte und an die ich mich auch nicht näher binden wolle.
Indem ich gezwungen war, Einsamkeit auszuhalten und mich mit meiner eigenen Gesellschaft zufriedenzugeben, wurde ich frei davon, andere Menschen für mein Glück verantwortlich zu machen oder mich für deren Wohlbefinden zuständig zu fühlen.
Damit konnte ich beginnen, sie ebenso wie mich selbst als vollständige Gegenüber mit Licht- und Schattenseiten zu sehen. Ich begann, zu wählen, ob ich mit ihnen zusammen sein möchte oder nicht. Im Wissen, dass Alleinsein auch sehr schön sein kann, begann ich, die Beziehung zu einem realen Menschen mit eigenen Bedürfnissen und Ansichten, mit Konflikten und Reibungspunkten zu genießen.
Seit 2022 bin ich glücklich verheiratet. Ich bin einundfünfzig Jahre alt. Der Weg war lang, aber er hat sich gelohnt.

Auswege aus der Schuld-Manipulationsfalle
Diese alten Schuldgefühle lassen sich nicht einfach abschalten. Sie sind zu früh entstanden und zu tief im Körper verankert. Doch man kann lernen, sie zu beobachten, zu versuchen, sie zu verstehen, zu entkoppeln und neu einzuordnen. Der Weg raus muss gar nicht spektakulär beginnen. Vielleicht nur mit einem leisen Gefühl: „Das hier fühlt sich nicht stimmig an. Es gehört vielleicht gar nicht zu mir.“
Der erste Schritt ist das Erkennen. Unbewusste Schuld wirkt wie Nebel. Du funktionierst, du passt dich an, du reagierst, aber du siehst nicht klar, warum du handelst, wie du handelst. Erst wenn du beginnst, deine Schuldgefühle bewusst zu benennen, wird etwas sichtbar. Eine einfache, aber machtvolle Frage kann hier der Türöffner sein: „Wem gehört dieses Schuldgefühl wirklich?“
Der Weg aus dieser Schuldspirale beginnt mit Klarheit: Wer fühlt sich gerade wofür verantwortlich? Trage ich wieder einmal die ganze Last? Und gehört diese Verantwortung überhaupt mir?
Die Schuld-Matrix von Sinn & Werte kann helfen, den Unterschied zwischen echter, selbstverantworteter Schuld und übernommenen, von anderen Menschen, Kultur oder Religion konstruierten Schuldgefühlen zu erkennen. Allein dieser Perspektivwechsel bringt oft schon spürbare Erleichterung.
Doch Einsicht allein reicht nicht. Du brauchst einen inneren Gegenpol zum chronischen Pflichtgefühl: Mitgefühl mit dir selbst. Eine Stimme, die sagt: „Ich darf leben. Ich darf wachsen. Ich darf ich selbst sein.“
Das kann sich fremd anfühlen, ja sogar verboten oder zumindest irgendwie so etwas wie unmoralisch. Doch das ist nun einmal die Realität: Du bist da. Und du lebst. Da beißt keine Maus den Faden ab und, jetzt kommt’s: Es ist vollkommen in Ordnung. Es ist sogar wunderschön.
Damit das mehr wird als ein Gedanke, braucht es Identitätsarbeit. Viele Ersatzkinder haben über Jahre oder Jahrzehnte gelernt, dass sie eine bestimmte Rolle ausfüllen müssen: stark, vernünftig, angepasst, still, leistungsbereit. Das darf ja auch alles sein, aber ich bin sicher, das ist nicht alles, was du bist.
Nun geht es darum, die damals so unerwünschten Persönlichkeitsanteile, die dich von dem verstorbenen Bruder oder der verstorbenen Schwester und auch von den trauernden Eltern unterschieden, wieder ans Licht zu holen: Es sind die kindlichen, wilden, widersprüchlichen, lebendigen Teile deiner Persönlichkeit. Die lauten, ungezogenen, die quietschend vor Lachen in Pfützen springen und sich dabei von oben bis unten mit Schlamm besudeln.
Genau die Teile gibt es auch in dir, und du kannst lerrnen, sie wieder willkommen zu heißen und sie zu integrieren.
Schreibend, tanzend, malend oder in einem therapeutischen Prozess. Ja, du bist ein Subjekt mit eigenen Bedürfnissen, Grenzen und Werten. Ja, du bist nicht perfekt. Sondern vollständig.
Und dann kommt der Punkt, an dem du beginnst, klare Grenzen zu setzen. Das ist vielleicht der schwierigste Schritt. Vor allem, wenn deine Beziehungen bisher davon abhingen, dass du brav funktioniertest. Aber es ist der einzige Weg raus aus der Manipulationsfalle. Grenzen setzen schafft Klarheit. Du darfst deine Position ruhig und bestimmt vertreten. Auch wenn das andere Menschen enttäuscht.
Vom Stellvertreter zum Selbst
Der Weg aus der Schuld-Manipulationsfalle beginnt nicht mit einem großen Befreiungsschlag, sondern mit Klarheit. Dann mit feinen, oft unspektakulären Schritten: Du beginnst, Muster zu erkennen. Du merkst, wann Schuld dich lenkt. Du spürst, dass manche Verantwortungen gar nicht zu dir gehören. Und irgendwann setzt du eine Grenze und bleibst dabei. Auch mit einem schlechten Gewissen. Auch mit Angst. Denn Im Gegenzug erhältst du inneren Frieden, Klarheit, Ruhe, Zeit, Freude, Leichtigkeit, Selbstwertgefühl und Selbstwirksamkeit.
Ich finde, das ist ein guter Tausch.
Hier schreibe ich über einen Weg, der sich meiner Erfahrung nach bewährt hat, wenn es darum geht, sich von in manipulativer Weise erzeugten Schuldgefühlen zu befreien und diese von realer Schuld zu unterscheiden.
Und dann werden aus toxischen Schuldgefühlen realistische und gesunde Signale an denen du dein Handeln ausrichten kannst: Du kannst dich entschuldigen, Verantwortung übernehmen und handeln, wo es Sinn ergibt, und du wirst dich abgrenzen, wo es nötig ist. Damit dein eigenes Leben Raum gewinnen kann.
Das ist genug. Du bist genug.

In diesem Artikel verwendete Literatur
Alsdorf, F. (2017). Auswege aus dem Scham-Angst-Zyklus. https://www.ignis.de/wp-content/uploads/2018/12/Scham-Angst-Zyklus-kurz.pdf
Cain, A., & Cain, B. (1964). On Replacing a Child. Journal of the American Academy of Child Psychiatry, 3(3), 443–456.
Forward, S. (1998). Emotional Blackmail: When the People in Your Life Use Fear, Obligation and Guilt to Manipulate You. William Morrow Paperbacks
Hirsch, M. (2007). Scham und Schuld. Vortrag, Lindauer Psychotherapiewochen. https://www.lptw.de/archiv/vortrag/2007/Hirsch-Mathias-Scham-und-Schuld-Lindauer-Psychotherapiewochen2007.pdf
Neff, K. (2014). Selbstmitgefühl – Schritt für Schritt. Arbor.
Radcliffe, J., Yeomans, F. E. (2019). Transference Focused Psychotherapy for Patients with Personality Disorders: Overview and Case Example with a Focus on the Use of Contracting. https://www.researchgate.net/publication/330734825_Transference-focused_Psychotherapy_for_Patients_with_Personality_Disorders_Overview_and_Case_Example_with_a_Focus_on_the_Use_of_Contracting
Schellinski, K. (2019). Individuation for Adult Replacement Children: Ways of Coming into Being. London: Routledge.
Weitere Informationen auf: www.kristina-schellinski.com


