Verlieren – um zu überleben
Manchmal denke ich, dass meine Brust zu verlieren das Beste war, das mir passieren konnte.
In seinem Roman „Korrekturen“ im Kapitel „Der Versager“, lässt Jonathan Franzl seinen Protagonisten Chip bei einem Waldspaziergang eine Falle finden. In ihr stecken noch immer die Überreste eines Tieres. Doch das Tier ist nicht mehr da. Es hat sich das Bein, mit dem es sich in der Falle verfangen hatte, am Ende selbst abgebissen. Und dadurch sein Leben gerettet.
Eine Mastektomie als Game Changer? Ja, ich weiß, das klingt vollkommen durchgeknallt. Und vielleicht sehe ich das auch nur deshalb so, weil ich inmitten all des Wahnsinns ein unglaubliches Glück hatte: Der Krebs wurde im Rahmen des Mammografie-Screening-Programms rechtzeitig entdeckt, noch bevor er gestreut hatte. Ein Wunder – das sagen auch die Ärzte: In meiner linken Brust hatten sich vier Tumore eingenistet. Vier! Zwei davon invasiv.
Sie dehnten sich aus, ernährten sich von mir und waren langsam aber sicher dabei, mich zu töten.
Die Analogie ist frappierend
Im Sommer 2022 hatte ich die letzte Untersuchung. Negativ. Und dann, genau in der Zeit, in der die Tumore wuchsen, war ich – wieder einmal – dabei gewesen, mich für andere Menschen aufzugeben. Ab dem Herbst 2022 hatte ich mich in eine neue Rolle gezwängt. Aus der Hippie-Backpackerin, die frei durch Lateinamerika reiste, hatte ich versucht, eine vorzeigbare, konservativ-christliche Ehefrau zu machen. Bis über beide Ohren verliebt in meinen Mann hatte ich erneut versucht, mich in das evangelikale Umfeld seiner ehemaligen Gemeinde einzupassen.
Und – jetzt kommt’s: Die Rolle seiner verstorbenen Frau würdig zu übernehmen!
Ich scheiterte auf allen Ebenen. Zum Glück!
Schon damals hatte ich mir das Buch von Frau Schellinski – Individuation for Adult Replacement Children – gekauft, aber nie einen Blick hineingeworfen. Ich dachte, das bräuchte ich schon lange nicht mehr. Nach gut zwanzig Jahren mehr oder weniger hilfreichen Therapien hatte ich von Psychologie die Nase gestrichen voll. Ich war über und über etikettiert mit Diagnosen, die irgendwo stimmten und irgendwie dann auch wieder nicht. Ich bin im Guten gegangen und im Streit. Nun mochte ich nicht mehr. Doch dass all das irgendetwas mit meinem verstorbenen Bruder zu tun gehabt haben könnte, daran wollte ich nicht denken. Ich konnte es nicht. Obwohl es offensichtlich war.
Heute weiß ich: Da lag ein fettes Denkverbot über der Erkenntnis.
Die Gemeinde lehnte mich ab. Erst subtil, dann ganz offen. Es gab kleine, stichelnde Vergleiche: Sie sei so anders gewesen, als ich. Bei ihr hätte man zum Beispiel von den Scheuerleisten essen können. Wäre das bei mir denn auch so? Ach, und übrigens, wo denn ihre Urne sei. Später wurden daraus konkrete Anfeindungen: Ich solle mir doch bitte eine neue Gemeinde suchen. Man riet es mir im Guten.
Man würde in mir doch ohnehin nur die Verstorbene sehen
Natürlich war das eine Unverschämtheit, und ich glaube, viele Menschen wären davon nicht angetan. Doch mich wunderte, dass es mich so sehr traf. Albträume in der Nacht waren die ersten Anzeichen: Ich sah mich eingesperrt in irgendeinem Knast und alle Insassen prügelten auf mich ein.
Etwas Vertrautes wurde da in mir angerührt. Ich konnte es noch nicht benennen. Aber es machte mir Angst.
Zunächst wollte ich einfach die Gemeinde verlassen. Doch dann hätte ich vielleicht Stephan verloren, der selbst bis zu den Hüften eingewickelt war in den toxischen Glaubenssätzen einer geschlossenen religiösen Gemeinschaft. Dann wollte ich kämpfen. Ich konfrontierte den Pastor. Forderte ihn auf, sich aus meiner Partnerschaft herauszuhalten.
Was für ein Ungehorsam! In der Folge sollte ich vor den Kirchenrat zitiert werden und vor sieben, mir fremden Männern, widerrufen. Ich nahm mir einen Anwalt, wehrte mich. Und scheiterte immer wieder an den angeblichen Geboten eines Gottes, der mir scheinbar das Maul verbot.
- Sei nicht zornig!
- Nimm dich nicht wichtig!
- Halte die andere Wange auch noch hin.
- Vergib!
- Sorge du für Frieden – egal wie.
Dieser Gott stand nicht auf meiner Seite.
Ich konnte nicht kämpfen. Und fliehen konnte ich auch nicht. Ich versuchte mich anzupassen, mir die Verstorbene zum Vorbild zu nehmen: Innerhalb weniger Monate wechselte ich meine Haarfarbe drei Mal. Ich fühlte mich fehl am Platz. Unwohl in meiner eigenen Haut. Und ich begann, mich auf eine seltsame Weise schuldig zu fühlen. Als hätte ich die andere auf dem Gewissen. Manchmal drehte ich die Musik laut auf, Depeche Mode bis zum Anschlag. Das war ich! In anderen Momenten stand ich vor dem Spiegel und erkannte mich selbst kaum wieder.
Meine Identität wurde brüchig.
Dann reagierte der Körper von einem Tag auf den anderen: Die Hüfte blockierte beim Gehen, ich kam keine hundert Meter mehr aus dem Haus. Und während ich einen Termin beim Orthopäden vereinbarte, wusste ich bereits: Irgendetwas ist hier oberfaul. Und das ist etwas sehr, sehr Altes.
Während ich um Stephan kämpfte, versuchte ich zu begreifen, was da gerade in mir abging. Ich kramte in meinen Erinnerungen, spürte hinein in die Zeit, in der ich als Kleinkind wegen einer Hüftdysplasie nicht richtig laufen konnte. „Igitt. Das Kind ist behindert.“
Da griff ich zu Schellinskis Buch. Und fand mich wieder!
Eins zu eins: Die gleichen Kämpfe, die gleichen Zweifel. Die gleiche Zerrissenheit. Das war der Beginn meiner Suche.
Ich hielt meine Klappe nicht, wurde zur persona-non-grata. Erhielt Hausverbot in der Gemeinde. Stephan entschied sich gegen die Kirche und für das Leben mit mir. Auf unserer Hochzeitsfeier blieb die Hälfte der Tische leer. Wir gingen in unseren Festklamotten auf die winterliche Straße, luden fremde Menschen ein. Kommt! Wir haben genug.
Wir siegten. Für den Moment.
Doch der Teufel ist ein Eichhörnchen, und ich bekam das gleiche Thema in den folgenden Jahren immer und immer wieder auf den Tisch. Immer radikaler, immer härter:
Als im September 2024 der Krebs in meiner Brust diagnostiziert wurde, steckte ich bis zum Hals in einer neuen Rolle, die nicht meine war: Zwei Mal in der Woche bewirtete ich drei Frauen. Ich versuchte sie zu trösten, schlichtete Streits, baute sie seelisch auf. Und ging wieder einmal auf in der Rolle der Wonderwoman. Der Vorzeigechristin. Der starken Mami, die alles wuppt. Auch wenn sie selbst weder die Zeit noch die Kraft dafür hat. Schon einige Monate merkte ich, wie erschöpft ich war. Wie sehr mir alles auf die Nerven ging. „Ich wünsche mir so sehr Freundschaften, die auch mal tragen.“
Und doch: Ich gestand mir nicht zu, aus der Rolle zu fallen. Sie brauchten mich doch, sagten sie. Und ich brauchte es, gebraucht zu werden.
Ich funktionierte weiter
Dann, am 10. September 2024, kam der Anruf. „Ich habe keine Zeit für Brustkrebs“, schrieb ich, und meinte es so. Ich gestand mir keine Schwäche zu. Nicht vor der Operation und auch nicht danach. Bis es nicht mehr ging. Körper und Nerven kollabierten.
Und was passierte dann? Exakt das Gleiche, was ich aus meinem Familiensystem bereits kannte: Die Frauen, die nun von mir nicht mehr versorgt, betüttelt und bemuttert wurden, drehten durch: Aus der Idealisierung wurde innerhalb kürzester Zeit blanker Hass:
„Wie konnte sie denn so freiwillig ihre Brust abgeben?“, wurde gefragt.
Eine Aussage, die von Symbolkraft nicht mehr zu überbieten war.
Versorge uns. Auch wenn du daran stirbst!
Während ich in der Nacht mit Drainagen im Körper, Schmerzen in der Brust und Ängsten vor Metastasten im Kopf um Schlaf kämpfte, erhielt ich wütende Nachrichten aufs Handy. Nächtelang wurde Stephan beschimpft: Ich sei vom Teufel besessen. Er solle sich von mir trennen. Der Wahnsinn erreichte seinen Höhepunkt: Nun, wo ich nicht mehr funktionierte, wurde ich zum Dämon, der die Idylle stört.
Das Psycho-Drama meines Familiensystems wiederholte sich. Kein Wunder: Ich hatte es über die Monate und Jahre fein säuberlich rekonstruiert. Mit meiner eigenen Brust verlor ich, das Flaschenkind, auch die Illusion, am Ende – nur ein einziges Mal – doch noch von meiner Mutter genährt und geliebt worden zu sein.
Der Stress verzögerte den Heilungsprozess: Mein Körper pumpte Wundflüssigkeit ohne Ende heraus, die Drainagen mussten gezogen werden – und konnten es doch nicht. Und ich? Ich wusste, wie wichtig gerade in diesem Moment eine stabile Psyche war. Und ich brauchte doch, verdammt noch mal, mein Immunsystem! Ich war endlich – endlich! – gezwungen, eine Entscheidung zu treffen:
Für meine Grenzen. Für mein Leben.
Im Oktober 2024 hörte ich die erlösenden Worte des Chirurgen: Sie sind gesund. Fangen Sie ein neues Leben an.
Ich bin dabei. Ich schreibe darüber. Einen Teil davon könnt ihr hier nachlesen: https://www.perlenfeder.blog. Den Rest verarbeite ich aktuell in einem Buch.
Ich brauche noch ein wenig, denn Tag für Tag kommen neue Erkenntnisse hinzu. Schleier fallen. Je klarer ich mich gegenüber anderen abgrenze, je authentischer ich meine Wahrheit äußere, desto mehr versöhne ich mich mit mir selbst. Es ist wunderschön. Es wurde allerhöchste Zeit.
Der Krebs war kein Zufall. Das meine ich nicht nur spirituell. Die Chancen stehen hoch, dass es der chronische psychische Druck war, der den Körper krank gemacht hat. Ich habe mich selbst unterdrückt – und mein Körper sendete ein letztes SOS. Save Our Souls.
Save Our Self – retten wir unser Selbst!
Ich habe unglaubliches Schwein gehabt.
Zur gleichen Zeit wie ich war eine junge Frau, die ich kannte, ebenfalls an Krebs erkrankt. Sie wohnte im selben Ort wie ich. Auch sie ging in eine evangelikale Gemeide. In dieselbe Kirche, in die auch einige der Frauen gingen, die mich dafür verdammten, dass ich ärztliche Hilfe in Anspruch nahm. Diese junge Frau wurde auch mir gegenüber als Glaubensvorbild gefeiert, als sie gehorsam ihre Rolle als treue Christin einnahm, und auf eine Chemotherapie verzichtete. In Deutschland. Im 21. Jahrhundert. In einer Gemeinde, zu denen Mitgliedern unter anderem auch Ärzte zählten. Sie starb im Februar 2025. Am Sonntag nach ihrer Beerdigung formulierte der Pastor, nachzuhören auf der Homepage der Freikirche, diese Sätze:
„Und wir haben oft, ich habe den Reflex zu sagen, ja, das ist weil die das unwürdig nehmen. Die sind gar keine Christen. Ja, deshalb sind die alle krank und tot. Ja, dumm gelaufen. Aber ich glaube, nein. Es hat damit zu tun, dass die Menschen nicht verstehen, dass dieser Heilungsansatz im Leib ist. Und wenn sie den Leib nicht im glaubenden Sinne nehmen,dann werden sie vielleicht nicht gesund, wie Gottes geplant hat. Ja, und ich sage das in einer Woche, wo wir unsere Schwester mit 29 Jahren beerdigt haben. „* (Das Transkript liegt mir vor.)
Die Erklärung ist so simpel, wie perfide: „Vielleicht hatte sie nicht genug geglaubt. Vielleicht war sie doch nicht das, was wir in ihr gesehen haben. Am Ende wird es ihre eigene Schuld gewesen sein.“
Die Welt der anderen dreht sich weiter. Sie werden andere Menschen finden, in denen sie etwas idealisieren können, etwas verdammen. Ihre guten oder schlechten Anteile spiegeln. Die junge Frau, ist tot. Und ich möchte nicht wissen, mit welchen Zweifeln sie starb.
Das ist das Skript der Ersatzkinder
Kristina Schellinski – selbst Ersatzkind – schrieb einmal: „Lange Zeit meines Lebens wusste ich nicht, wer ich war. Wenn ich nicht die Projektionen der anderen erfüllte.“ Ich habe ebenfalls endlose fünf Jahrzehnte lang versucht, den Menschen zu geben, was sie in mir sehen wollten. Die Supererfolgreiche. Die Supergehorsame. Die Superchristin. Die Superwoman, die immer für alle anderen da ist. Die Retterin der Familie, die vom Schmerz zerrissen war. Die eine unlösbare Aufgabe stemmen sollte. Die daran scheiterte und schließlich als Versagerin gelabelt, beschämt und beschuldigt wurde. Es ist das Skript, das ich immer und immer wieder in verschiedenen Varianten wiederholte.
Bisher. Denn nun hat mir ausgerechnet der Ungehorsam das Leben gerettet.
Im ganz direkten Sinne und auch im übertragenen. Nach meiner Rückkehr aus dem Krankenhaus hätte es ja wieder etwas zu Holen geben können. Und so kamen sie wieder an. Mit Vergebungsdruck und Vorwürfen, Bibelversen, Tod und Teufel. Seither räume ich radikal meinen Freundeskreis aus. Und jeder, der mich in eine fremde Rolle pressen möchte, die ausschließlich seinem eigenen Wohlbefinden dient, fliegt achtkantig raus. Es tut ein bisschen weh. Ich weiß, dass ich sie enttäusche und das Bild zerstöre, dass sie sich von mir gemacht haben. Doch mit jedem Mal gewöhne ich mich ein wenig mehr daran: Ich bin nicht die Gute. Ihr müsst mich nicht mögen.
Dabei muss es schon längst nicht mehr Sterben oder Überleben gehen. Denn es geht immer um unser Selbst. Um unsere ureigenste Lebenszeit. Keiner gibt sie uns zurück. Und ich bitte euch, wenn ihr das hier lest: Lasst es für euch niemals so weit kommen. Grenzt euch rechtzeitig ab. Sorgt für euch. Opfert euch nicht.
Niemand ist es wert, dass wir zugrunde gehen. Keine Lebenden, keine Toten und wie auch immer geartete Machthaber schon mal gar nicht. Lasst euch nichts vormachen. Wo euer Sein nicht geschätzt wird, da gehört ihr nicht hin.
Nein ist ein ganzer Satz.

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