Der Ruf ins Leere – Bindungsstörung zwischen Mutter und Ersatzkind

Tote Bäume in der Wüste als bild für die innere Entfremdung eines Ersatzkindes, das die Trauer und unbewusste Feindseligkeit einer gestörten Bindung zur trauernden Mutter erleiden musste.
Lesedauer 17 Minuten

Leere als Lebensgefühl

Diese Geschichte beginnt in einer Welt, die sich nicht mehr dreht. Surreal und furchterregend verschlang mich die Depression zum ersten Mal im Jahr 2013. Vier Jahre später kam sie zurück. Sie stahl mir endlose Monate des Jahres 2017, dann wurde sie meine Begleiterin: 2019, 2021, 2022, 2023, 2024…

Daran gewöhnen konnte ich mich nie: Die Zeit tropft zäh durch ein endloses Grau, der Körper zu schwer, um aufzustehen. Ferne Geräusche wie in Watte gepackt, Gerüche verblassen, Berührungen erreichen mich kaum. Milchglas steht zwischen mir und dir. Fast bin ich froh darüber. Wo einst Zukunft war, klafft ein endloses Loch, ich treibe durch ein ewiges Jetzt ohne Richtung, flüchte in eine Vergangenheit, die nicht rettet, sondern erbarmungslos mit dem Finger auf mich zeigt, mit Krallen nach mir greift.  Nein, ich bin noch nicht ganz weg. Ich bin nur nicht mehr bei dir.

Als das „Ergebnis einer Desynchronisation“ beschreibt Thomas Fuchs von der Uniklinik Heidelberg die Melancholie, eine „Entkopplung in der zeitlichen Beziehung zwischen Organismus und Umwelt oder zwischen Individuum und Gesellschaft“. Manchmal zieht dieser Zustand vorüber, manchmal bleibt er – nicht als greifbarer Schmerz, sondern als gleichförmige innere Stille. Das Leben läuft weiter, aber es erreicht einen nicht.

Diese Abkopplung erlebt nicht nur die depressive oder in tiefer Trauer gefangene Bezugsperson, auch ihr Kind erfährt sie in diesem Zustand als innerlich nicht mehr erreichbar. Der Psychoanalytiker André Green hat dafür das Bild der „toten Mutter“ geprägt. Sie ist physisch anwesend. Doch dort, wo seelische Verbindung sein sollte, eine Reaktion auf die Bindungsbemühungen des Kindes, seine Versuche, einen echten authentischen Kontakt mit der Mutter aufzunehmen, trifft es auf Leere und psychische Abwesenheit.  

In diesem Text geht es darum, wie solche inneren Abbrüche entstehen, wie Kinder sie aufnehmen und weitertragen – und welche Wege es gibt, das Erlebte im späteren Leben Schritt für Schritt zu verwandeln.

Sonnenuntergang in der Wüste. Die Wüste steht hier für die Leere, die aus der gestörten Bindung des Ersatzkinds zur trauernden Mutter entsteht

Wie sich Depression im Alltag anfühlt

Ich liege im Bett und versuche gedanklich, in kleinsten Schritten mein Leben zu bewältigen: Aufsetzen. Stehen. Duschen. Zähne putzen. Anziehen. Vielleicht essen. Einkaufen. Dinge, die an guten Tagen ganz beiläufig geschehen, werden zu unerreichbaren Gipfeln. Ich will, aber kann nicht. Draußen: ein Bilderbuchhimmel. Drinnen: Stillstand in Grau. Ich will aktiv werden, will genießen, verpasse das Leben und leide darunter. Ich kann nicht anders.

Nein. Das ist keine Faulheit, sondern ein bekanntes Symptom der Depression: Das Belohnungssystem im Gehirn läuft auf Sparflamme, und selbst Dinge, die sonst Freude machen, erreichen mich nicht. Studien zeigen, dass in depressiven Phasen sowohl Motivation als auch körperlicher Antrieb gedämpft sind.

Warum das Kind ins Leere ruft

Nähe lebt von Antwort. Unser Gehirn besitzt dafür eine Art „Wichtigkeits-Schaltzentrale“ – ein Netzwerk, das markiert: Das hier ist wichtig, reagiere jetzt. Bei Depression ist diese Markierung oft abgeschwächt. Bildgebende Studien zeigen: Mütter mit depressiven Symptomen reagieren auf das Weinen ihres eigenen Babys messbar leiser und langsamer; die Aktivierung in den für Aufmerksamkeit und Bindung zuständigen Hirnregionen fällt schwächer aus.

Für das Kind bedeutet das: Es ruft, doch die überlebenswichtige Antwort der Mutter kommt spät oder nur sehr verhalten. Sie kann nicht anders.

Abgeschwächte Resonanz und ihre Folgen für Bindung und Selbstbild

Für das Kind fühlt es sich an, als ob seine Signale im Nichts verschwinden. Es strampelt, lächelt, weint – und stößt doch gegen eine Wand aus Abwesenheit. Diese frühe Erfahrung kann eine tiefe Verunsicherung hinterlassen: Bin ich wichtig? Wird auf mich geachtet? Bin ich selbstwirksam und damit in der Lage, mein Überleben zu sichern?

Für kleine Kinder ist Bindung existenziell: Das sichere Wissen, dass jemand antwortet, wenn man ruft. Fehlt diese Antwort häufig oder bleibt sie unpassend, kann sich das innere Bild von Beziehung verschieben. Aus gegenseitigem Schwingen wird eine Einbahnstraße: Das Kind sendet, passt sich an, versucht, sich stärker zu behaupten oder stiller zu werden: je nachdem, was die größte Chance auf Resonanz verspricht.

Beziehung, Bindung und die Fähigkeit, sich gegenüber der Bezugsperson auf eine Art verständlich zu machen, dass diese das Leben des Kindes sichern kann und möchte, ist für das Kind derartig überlebenswichtig, dass es alles dafür tun oder aufgeben wird.

Bindung ist für Kinder existenziell

Eindrucksvoll lässt sich dies beim Still-Face-Experiment von Edward Tronick beobachten: Die Verzweiflung des Kindes in nur wenigen Augenblicken, in denen es in das ausdruckslose Gesicht der Mutter blickt, zeigt das enorme Ausmaß an belastenden Emotionen, dem es in diesem Moment ausgeliefert ist. Im Still-Face-Experiment stellt die Mutter sofort die Beziehung zu ihrem Kind wieder her. Sie repariert sie und sorgt dafür, dass keine emotionale Schädigung eintritt. In der Interaktion mit depressiven oder unter pathologischer Trauer leidenden Bezugspersonen bleibt diese Reparatur aus. Und damit auch die emotionale Entlastung des Kindes durch eine neugewonnene Sicherheit.

Die eingeschränkte Resonanz der depressiven Bezugsperson führt nicht selten zu unsicheren Bindungen zwischen Mutter und Kind. Das Kind, das sich nie sicher sein kann, ob und auf welche Weise die Mutter auf seine Signale reagiert, entwickelt häufig unsicher-vermeidendes oder unsicher-abhängiges Bindungsverhalten: Es verlässt sich früh auf sich selbst, da es davon ausgeht, dass es Hilfe von anderen Menschen nicht erwarten darf, oder es fürchtet Trennung und Autonomie, da es sich nicht sicher sein kann, dass die Bezugsperson nach seiner Rückkehr immer noch verfügbar sein wird.

Die Resonanz – oder eben auch die  Nicht-Resonanz – der Mutter oder primären Bezugsperson wird nachhaltig prägen, wie das Kind sich selbst, seine Umwelt, seine Beziehungen zu anderen Menschen und sein eigenes Verhalten darin erleben und bewerten wird. Ein Leben lang.

Psychische Abwesenheit trotz physischer Präsenz

Der von André Green geprägte Begriff der „toten Mutter“ beschreibt nicht das körperliche Fehlen der Mutter, sondern ihr psychisches Fehlen in der Beziehung zum Kind. Die Bezugsperson reagiert nun auf seine Signale mit Gleichgültigkeit oder mechanischer Fürsorge, ohne innere Resonanz. Die positiven, wie negativen Emotionen des Kindes finden kein Gegenüber, das sie aufnimmt, spiegelt oder reguliert. Das erzeugt eine tiefe innere Verunsicherung: Sind meine Gefühle real? Sind sie wichtig oder bedeutungslos?

So entsteht bereits im vorsprachlichen Alter des Ersatzkindes ein chronischer Zustand von Leere und Entbehrung, der bis ins Erwachsenenalter fortbestehen kann und für den das Ersatzkind auch später keine Worte findet: André Green nannte sie: „Die weiße Depression“.

Tote Bäume in einer Wüste unter Sternenhimmel zur bildlichen Darstellung der gestörten Bindung zwischen Mutter und Ersatzkind

Komplizierte Trauer nach dem Tod eines Kindes

Der Verlust eines Kindes stellt für die Eltern eines der schwerwiegendsten potenziell traumatischen Ereignisse im Leben dar. Die traumatische Trauer von Eltern nach dem Tod eines Kindes geht daher nicht selten in eine anhaltende Trauerstörung über, die laut WHO diagnostisch durch „eine anhaltende und tiefgreifende Trauerreaktion … mit intensiver Sehnsucht nach dem Verstorbenen oder anhaltender Beschäftigung mit dem Verstorbenen“ charakterisiert ist, die über mindestens sechs Monate hinausgeht und deutlich über kulturelle oder soziale Erwartungen hinausreicht. Studien zeigen, dass die Wahrscheinlichkeit, nach dem Tod eines Kindes von einer solchen komplizierten Trauerstörung betroffen zu sein, zwischen 10 und 49 Prozent betragen kann. Diese Prolonged Grief Disorder wirkt sich nicht nur auf das psychische Befinden der Eltern aus, sondern verändert auch deren Fähigkeit, in neuen Beziehungen – insbesondere zum nachgeborenen Kind – emotional verfügbar zu sein.

Die Bindungsmuster einem Ersatzkind gegenüber ähneln denen depressiver Eltern, und werden durch die ständige gedankliche Anwesenheit des verstorbenen und in der Fantasie der Eltern im Zeitverlauf auch idealisierten Kindes noch zusätzlich verkompliziert.  

Enttäuschte Hoffnungen und unbewusste Feindseligkeit

Temizel und Hocaoğlu formulieren: „Kinder, die einen Verlust erlebt haben, müssen möglicherweise ihre eigene Identität im Schatten einer anderen Identität formen, die auf sie projiziert wird.“ („Children after loss may have to shape their own identities in the shadow of another identity projected on them“).

Vom Hoffnungsträger zum Trigger

Manche Eltern verknüpfen mit der Geburt eines nachfolgenden Kindes die Erwartung, dass es ihren Schmerz mildern, eine innere Entlastung bewirken und gewissermaßen das Verlorene zurückbringen wird. In dieser Hoffnung liegt häufig auch die Vorstellung, das Kind könne die entstandene Lücke schließen und als eine Art Ersatz fungieren. Bleibt diese unbewusste Erwartung unerfüllt – was nahezu zwangsläufig geschieht, da kein neues Leben die Trauer vollständig tilgen kann –, entsteht oft tiefe Ernüchterung. Das nachfolgende Kind wird dann nicht selten als unzulänglicher oder unbefriedigender Ersatz wahrgenommen.

Das Ersatzkind als Träger des Unaussprechlichen

„Dieses neue Kind lebt anstelle unseres verstorbenen Kindes. Es hat seinen Platz eingenommen. Dieses Kind ist nicht unser verstorbenes Kind – es hätte es sein sollen, und es ist seine Schuld, dass es das nicht ist. Es ist nicht fair, dass es lebt und unser anderes Kind gestorben ist. Es trägt die Verantwortung für all das, es ist alles seine Schuld.“

So schildern Cain und Cain auf Seite 448 ihres Artikels  „On Replacing a Child“ die unbewusste, verschobene Feindseligkeit und die Vorwürfe, die trauernde Eltern manchmal (ohne es zu bemerken) auf das Ersatzkind richten. Diese Dynamik führt dazu, dass das nachfolgende Kind zum Träger inadäquater Schuldzuschreibungen wird: Für das Unaussprechliche wurde ein Schuldiger, ein Träger des Unaushaltbaren gemacht.

Ich habe hier die Quelle bewusst nicht nur verlinkt, sondern zum Nachlesen angeführt, weil es sich hier um eine Dynamik handelt, die auf der einen Seite so nachvollziehbar ist, wenn wir uns bewusst machen, wie schnell wir selbst versuchen, Schuldgefühle abzuwehren und einem anderen zuzuschieben. Wie fatal sie für ein kleines Kind sein muss, das diese Feindseligkeit seiner Eltern weder verstehen kann noch ihr entrinnen, und wie fatal die Auswirkungen auf seine Psyche sein werden.

Dieser Mechanismus ist zentral für das Verständnis der besonderen Verletzlichkeit von Ersatzkindern, die in einem emotional ambivalenten Klima aufwachsen, in dem die elterliche Zuwendung zugleich mit unterschwelliger Feindseligkeit oder Zurückweisung verknüpft sein kann.

Wenn niemand das Ungeheuerliche glauben kann

Wenn in der eigenen Familie Gefahr lauert, braucht das Kind Halt bei anderen Menschen. Doch wird es sich gegenüber Dritten, die sich niemals mit diesem Thema befasst haben, verständlich machen können?

Gesellschaftliche Abwehr

Meine persönlichen Erfahrungen sprechen dagegen: Der Gedanke, dass Eltern auf eine solche Weise auf ihr Kind reagieren könnten, widerspricht allen gesellschaftlichen, kulturellen, religiösen und menschlichen Vorstellungen, die mit Elternschaft einhergehen. Ja, er ist so ungeheuerlich, dass er unverzüglich starke Abwehr bei jenen auslöst, an die sich das Kind oder auch später der Erwachsene zu wenden versucht:

  • „Das musst du dir einbilden.“
  • „Das kann nicht sein.“
  • „Du bist verrückt.“
  • „Wie kannst du so etwas sagen?

Sekundäre Verletzungen

Zusätzlich zu der intuitiv wahrgenommenen und gleichzeitig explizit geleugneten Feindseligkeit durch die Eltern kommt die Ablehnung dieser oft erst nach langem Ringen vom Kind geäußerten Wahrheit durch die Gesellschaft: Freunde, entferntere Familienangehörige, Nachbarn, Pädagogen, Ärzte, Vertrauenspersonen, Therapeutinnen.

Dissoziieren, um nicht durchzudrehen

Das Ersatzkind lernt: Jeder Kommunikationsversuch geht ins Leere, führt zu Unverständnis und weiterer Ablehnung. Es ist zum Verzweifeln. Um überhaupt überleben zu können, ist es nun endgültig gezwungen, sein inneres Erleben abzuspalten. Gefühle und Wahrnehmungen verlieren so ihren Realitätsstatus, werden innerlich „eingefroren“ und nach außen hin durch angepasste, sozial akzeptable Reaktionen ersetzt.

Da der Kampf gegen die übermächtigen und sozial unterstützten Eltern nicht gewonnen werden kann, eine Flucht unmöglich ist, verbleibt die innere Erstarrung als letzte Reaktionsmöglichkeit.

Doch auch wenn das Kind so in seiner eigenen Wahrnehmung scheinbar dem Schmerz entgeht, so ist es doch weiterhin seiner Umwelt ausgesetzt, die ihren eigenen Schmerz auf Kosten des Kindes zu regulieren versuchen.

Eine einsame Ziege inmitten der Wüste. Im Altertum wurden Böcke als symbolische Träger der Schuld einer Gruppe in der Wüste dem Verhungern und Verdursten preisgegeben. Diese Sündenböcke dienten der Psychohygiene der sozialen Gruppe. Nicht selten wird Ersatzkindern die Rolle des Schuldträgers, des Sündenbocks des trauernden Familiensystems zugewiesen.

Wo Selbstschutz als Verrat gelesen wird

In der psychoanalytischen Theorie gilt die projektive Identifizierung als unbewusster Mechanismus, bei dem eigene, unerträgliche Anteile auf eine andere Person „projiziert“ werden, die diese dann tatsächlich erlebt und eventuell sogar auslebt.

Schuldgefühle, Angst, Trauer, Verzweiflung, Verlust und Sinnlosigkeit: Von all den  unerträglichen Emotionen, die mit dem Tod des eigenen Kindes einhergehen, können sich die trauernden Bezugspersonen zumindest zeitweilig ein wenig entlasten, wenn sie es schaffen, diese auf einen anderen Menschen auszulagern. Das Ersatzkind, als schwächstes und leicht verfügbares Glied im schmerzerfüllten und enttäuschten Familiensystem  hat ohne Hilfe von außen praktisch keine Möglichkeit, sich gegen diese Rolle zur Wehr zu setzen.

Die Dynamik der Projektiven Identifizierung

Man kann sich leicht vorstellen, dass sich das Ersatzkind in seinem Verhalten und seinen Reaktionen außerhalb der Familie von anderen, sicher aufwachsenden Kindern unterscheidet. Wie soll es ein Empfinden für seinen eigenen Wert entwickeln? Wie soll es lernen, sich auf kompetente Art zu wehren, zu spielen, zu raufen und sich zu erproben? Das Kind wird als „seltsam“, „schwierig“ wahrgenommen. Gerade im Vergleich zum Verstorbenen verstärkt dies die Empathie der Umwelt mit den trauernden Eltern: Erst mussten sie mit dem Verlust ihres Kindes fertigwerden, und nun sind sie mit so einem Gör gestraft.

Überleben in der Hölle – Beschwichtigung als Überlebensstrategie

Wenn Erstarren nicht mehr hilft, springt das Nervensystem in eine vierte Überlebensstrategie, die sogenannte Fawn Response oder Bambi-Reaktion:

„Die Bambireaktion ist die am wenigsten anerkannte der vier primären Traumareaktionen: Kampf, Flucht, Erstarren und Bambi… sie ist eine Überlebensstrategie, die im Nervensystem verankert ist, um Konflikte zu vermeiden, die Bindung aufrechtzuerhalten und sicher zu bleiben.“

Das Kind unterwirft sich, um trotz emotionaler Leere und (unbewusster) Feindseligkeit der Eltern vielleicht doch ein Minimum an Zuwendung zu sichern. Es verliert sich dabei unmerklich selbst zugunsten eines äußeren Friedens, der nie echt war. Für Ersatzkinder bedeutet das: Neben innerlicher Erstarrung entwickeln sie oft ein hochgradig angepasstes Verhalten, das auf Gefälligkeit und Beschwichtigung zielt: People-Pleasing als Überlebensstrategie.

Die Fawn-Response als Traumareaktion

„Eine Fawn-Response kann als ein Fuß auf dem Gaspedal und ein Fuß auf der Bremse zur gleichen Zeit gesehen werden. Wir haben gerade genug soziales Engagement, um zu beschwichtigen, während wir uns von unserem wahren Selbst abkoppeln…“

Aus dieser permanenten Selbstverleugnung erwächst zusätzlich eine chronische Leere, die nun nicht nur das Ergebnis einer erloschenen affektiven Resonanz ist, sondern zusätzlich einer systematischen Entwertung der eigenen inneren Wahrheit. Ersatzkinder, die dieser doppelten Dynamik ausgesetzt sind, tragen oft bis ins Erwachsenenalter das Gefühl einer inneren Leere in sich. Ein zentraler Teil ihres Selbst scheint dauerhaft unerreichbar.

Der Selbstverrat als letzte Option

Dem Überleben zuliebe auf das Leben verzichten

Arielle Schwartz, Ph.D., erklärt:

„Bei der Bambi-Reaktion geht es darum, Menschen in dem Maße zu gefallen, dass eine Person sich von ihren eigenen Emotionen, Empfindungen und Bedürfnissen abkoppelt. In der Kindheit geschieht dies, weil sie ihre authentischen Emotionen wie Traurigkeit, Angst und Wut nicht äußern dürfen, um möglichen Zorn oder Grausamkeiten von Eltern oder Betreuungspersonen zu vermeiden. Infolgedessen wenden sie ihre negativen Gefühle in Form von Selbstkritik, Selbstverachtung oder selbstschädigendem Verhalten gegen sich selbst.“

Einige Gedankengänge ihrer Klienten:

  • „Ich hoffte, dass sie sich um mich kümmern würden, wenn ich mich um sie kümmerte.“
  • „Ich habe nie meine wahren Gefühle gezeigt, aus Angst vor Vergeltung.“
  • „Ich bewegte mich immer auf Eierschalen; ich wusste nie, wann sie explodieren würden.“
  • „Ich musste mich je nach ihrer Stimmung verändern.“

Ein Als-Ob-Leben

Wenn das wahre Selbst, die eigene Lebendigkeit dissoziiert werden muss, nicht mehr wahrgenommen werden darf, bleibt nichts als Leere. Das eigene Bild, der eigene Wert  ist untrennbar mit der Meinung anderer, deren Wahrnehmung und auch deren Projektionen auf die eigene Person verknüpft.  

Nach außen angepasst, freundlich und verlässlich, zugleich aber distanziert und kaum greifbar. Die ersehnte Nähe wirkt gleichzeitig fremd und bedrohlich. Ablehnung wird zum  existenziell vernichtenden Echo der Vergangenheit: „Es ist nicht fair, dass dieses Kind lebt und das andere Kind gestorben ist.“

Aus der Fremdabwertung wird Selbstabwertung. Während Perfektionismus, Konfliktvermeidung und Überanpassung sicherstellen sollen, in den Augen der anderen weiterhin als liebens- und lebenswert zu gelten, wird versucht, die innere Leere zu füllen: Süchte, Überarbeitung oder emotionale Flucht können als dysfunktionale  Bewältigungsstrategien kurzzeitig hilfreich erscheinen. Der Preis wird in der Zukunft gezahlt.  

Sträucher in einer nächtlichen Wüste als Bild für die Einsamkeit eines Ersatzkindes in einem feindlichen Umfeld und der sich in der Reinszenierung wiederholenden Geschichte.

Der Beginn einer schmerzhaften Odyssee

Dann, wenn der Mangel an Sinn und Erfüllung nicht mehr vor sich selbst verborgen werden kann, werden die Kosten der Anpassung sichtbar: Anhaltende Erschöpfung, Beziehungsprobleme, depressive Verstimmungen, psychosomatische Symptome, Selbstverletzung, Suizidalität, Abhängigkeiten und Retraumatisierungen.

Wenn die Symptome schließlich so gravierend werden, dass Hilfe gesucht wird, beginnt nicht selten eine lange Odyssee durch das therapeutische Versorgungssystem. Das Problem: Viele Behandlerinnen sehen vor allem die aktuellen Symptome, nicht jedoch deren biografische Wurzeln. So werden die anhaltende Erschöpfung, die schwankende Emotionsregulation, Selbstverletzungen oder Suchtverhalten häufig vorschnell als Ausdruck einer depressiven Störung, einer Angststörung oder einer Persönlichkeitsstörung – insbesondere einer Borderline- oder abhängigen Persönlichkeitsstruktur – diagnostiziert .

Diese Fehldeutungen sind naheliegend, weil sich das klinische Bild stark überlappt: Emotionale Instabilität, Identitätsunsicherheit, zwischenmenschliche Probleme und destruktive Selbststrategien sind sowohl bei chronischer Leere nach Entwicklungstrauma als auch bei Persönlichkeitsstörungen zu beobachten. Der entscheidende Unterschied – die anhaltende Anpassung an eine emotional schädigende Umgebung in der Kindheit, die von dem permanenten Vergleich mit einem idealisierten Anwesend-Abwesenden geprägt ist – wird dabei oft übersehen.

Ersatzkind-Awareness: Unverzichtbar in der therapeutischen Praxis

Häufig werden die Symptome als Depression gedeutet, weil Antriebslosigkeit, Erschöpfung und Sinnverlust dominieren. Andere erhalten die Diagnose Angststörung, da ihre Überanpassung und soziale Unsicherheit wie generalisierte Angst wirken. Die emotionale Instabilität und Selbstverletzungen führen nicht selten zu einer Borderline-Diagnose, während starkes Bindungsbedürfnis und Konfliktvermeidung fälschlich als abhängige Persönlichkeitsstörung verstanden werden. Bei chronischer Überarbeitung und Erschöpfung steht oft Burn-out im Raum, und körperliche Beschwerden ohne organischen Befund münden nicht selten in die Diagnose somatoforme Störung.

Die Folge sind symptomorientierte Behandlungen, die die zugrunde liegende biografische Verletzung unberührt lassen.  

Ein verhängnisvolles Stillhalteabkommen

Doch solange der Ursprung der Beschwerden im Dunkeln bleibt, kann Therapie kaum mehr als ein Überlebensmodus im neuen Gewand sein. Doch wie kann er angesprochen werden, solange beide Seiten – das Ersatzkind selbst und der Therapeut – sich scheuen, genauer hinzusehen? Betroffene haben gelernt, das traumatische Beziehungsgeschehen zu verschleiern oder zu bagatellisieren, um Loyalität zu wahren. Therapeuten wiederum wehren gerade bei Ersatzkind-Dynamiken nicht selten unbewusst ab, sei es, weil sie schwer auszuhalten sind, sei es, weil sie an die Grenzen der eigenen therapeutischen Handlungsmacht rühren.

Fehldiagnosen, Gegenübertragung und wiederholte Verletzungen

Schellinski beschreibt, dass Therapeutinnen und Therapeuten bei der Arbeit mit erwachsenen Ersatzkindern leicht in die ursprüngliche Familiendynamik hineingezogen werden. Diese Gegenübertragungsreaktionen können dazu führen, dass gerade die zentralen traumatische Inhalte abgewehrt werden – nicht, weil sie unwichtig wären, sondern weil sie für beide Seiten schwer auszuhalten sind:

Schellinski schreibt:

„Die Beziehung zwischen Analytiker und Analysand kann sich hohl oder unauthentisch anfühlen, und eine Bindung widerspiegeln, die nicht zwischen der Mutter und diesem Kind bestand, sondern zwischen Mutter und dem anderen, abwesenden Kind. Wenn eine Bezugsperson für Trost und Überleben auf das Kind angewiesen war, dann bedeutete das Behalten des anderen [Kindes] „als ob es lebte“, dass das Ersatzkind [selbst] ungesehen blieb und seine frühen Bedürfnisse nicht erfüllt wurden. Dieser Klient könnte versuchen und anzupassen, um die Bedürfnisse des Analytikers zu befriedigen, und zwar auf Kosten seiner eigenen Bedürfnisse in einer künstlichen oder nicht existierenden Allianz mit dem Therapeuten. […] Die Gegenübertragung kann auch die „feindselig-abhängige Bindung der wechselseitig ambivalenten Mutter und des Kindes“ (Cain & Cain, S.  49) widerspiegeln, eine Wiederholung der hasserfüllten Beziehung zu einem Kind, das gewünscht wird, aber nicht das gewünschte Kind ist.“  (Schellinski, 2019, Individuation for Adult Replacement Children, S. 175-176, Übersetzung Frances Dahlenburg).

Sonnenaufgang über der Wüste in Kalifornien. Als bildliche Darstellung, dass auch die Leere, die ein Ersatzkind in sich wahrnimmt, vom Licht des authentischen Selbst erreicht wird.

Geschichte wiederholt sich, bis sie überwunden wird

Schellinski beschreibt auch, wie es in dieser Dynamik auch zu Therapieabbrüchen seitens des Analytikers kommen kann. Die Folge: Die Geschichte wiederholt sich. Der Schmerz bleibt im therapeutischen Raum ebenso unerkannt wie in der Kindheit, und die zentrale Dynamik – Selbstverrat als Überlebensstrategie – wird erneut stabilisiert. Die innere Leere wird zementiert.

Auch hier schreibe ich aus eigener Erfahrung: Nach einer mehr als vierjährigen Psychoanalyse, die ähnlich zerbrach wie von Schellinski geschildert und die in mir die fixe Idee hinterließ, sogar Therapeuten würden mich nur hassen können, schlidderte ich zwei Jahrzehnte lang von Therapie zu Therapie, Diagnosen wurden aufgestellt und wieder verworfen, Medikamente ausprobiert und wieder abgesetzt. Meine Selbstwahrnehmung und mein Lebenslauf wurden immer chaotischer. Bis ich im Jahr 2023 auf die Arbeiten Schellinskis stieß und alles auf einmal Sinn und Logik erhielt.

Vergangenheit ist kein Schicksal

„This is not a pathology“, sagte Kristina Schellinski in ihrem Vortrag auf dem Ersatzkind-Symposium in den Niederlanden im Jahr 2023. Ersatzkinder sind nicht krank. Sie sind Überlebenskünstler. Die Leere, die viele Ersatzkinder begleitet, ist kein unausweichliches Lebensurteil. Sie ist das Echo einer Kindheit, in der die eigenen Bedürfnisse und Gefühle zugunsten fremder Aufträge zurückgestellt wurden. Doch was damals Überlebensstrategie war, muss heute nicht mehr das Leben bestimmen.

Der ungeschönte Blick auf die eigene Lebensgeschichte ist ein Schlüssel. Die eigene Biografie mit ihren positiven und schmerzhaften Erlebnissen klar zu sehen und nicht zu verdrängen ist essentiell, um die fehlenden Puzzleteile ans Licht zu holen und die Leere mit Wahrheit zu füllen.  Erst wenn sichtbar wird, welche Erwartungen und Rollen von außen übernommen wurden, können sie bewusst von den eigenen Bedürfnissen getrennt werden. Selbstfürsorge und Grenzsetzung sind dabei keine egoistischen Akte, sondern notwendige Handlungen, um sich selbst als eigenständige Person zu erleben. Jeder einzelne Schritt heraus aus der Stellvertreterrolle hin zu neuen Beziehungserfahrungen, jeder kleine Impuls, der aus dem eigenen Selbst gespeist wird, schafft Raum für Authentizität.  

Die gute Nachricht ist: Die Kindheit ist vorbei. Die Gefahr vorüber. Wir müssen uns nicht mehr verbiegen, um unser Überleben zu sichern. Und unser Gehirn ist plastisch genug, um den schlechten Erfahrungen nunmehr auch gute hinzuzufügen.

Oase in der Wüste als Symbol für Leben in der Leere, das entstehen kann, wenn das Ersatzkind sich seiner Erinnerung zuwendet.

Die Leere mit Wahrheit füllen

Zu verstehen, was wirklich geschehen ist, ist das Fundament für alles weitere. Ganz persönlich für mich war die Begegnung mit der ungeschönten Wahrheit gleichzeitig erschütternd und schmerzhaft als auch befreiend: Sie war schmerzhaft, weil sie alte Wunden berührte: Liebe und Zuwendung waren bedingt,  Zurückweisung und Entwertung waren real, das Gefühl, nirgends sicher zu sein, hatte seine Berechtigung. Das zu akzeptieren zerstörte meine Illusion, eine normale Kindheit gehabt zu haben und fühlte sich zunächst an wie ein unverzeihlicher Verrat an meiner Familie.

Wenn Lebenslügen zerbrechen, und diese Illusion war eine, macht das erst einmal unsicher: Mein altes Fundament trug nicht mehr. Ein neues war noch nicht da. Auf der anderen Seite bekam all das, was vorher diffus und widersprüchlich war, auf einmal Sinn und Struktur. Es ist in sich kohärent. Für mich war vor allem wichtig, dass ich mir das alles nicht eingebildet hatte. Das gab mir mein Vertrauen in meine eigene Wahrnehmung zurück.

Abschied von der Illusion

Wut, Enttäuschung, Entrüstung, das Gefühl, verraten und benutzt worden zu sein, die Trauer über all die biografischen Verluste, die damit einhergingen: All diese unerwünschten, verbotenen Gefühle kamen nach und nach an die Oberfläche. Sie zuzulassen ist nicht immer leicht auszuhalten. Sie letztlich als echt, berechtigt und zu mir gehörig zu akzeptieren ungemein stärkend: Es muss nicht alles schön sein.

Mir zu erlauben, dass nicht alles schön im Leben sein muss, war ein weiterer Schritt heraus aus der Ersatzkind-Rolle: Ich muss nicht länger für Harmonie und eine perfekte Fassade sorgen. Ich darf Missstände benennen, ohne dafür in Schuldgefühlen oder Scham über meine Illoyalität zu versinken.

Der Weg ins Leben führt durch Wahrheit

Und ja: Der Weg führte genau durch diese Schuld und Schamgefühle hindurch. Schuld dem Familienimage gegenüber. Scham über die eigene Herkunft. Schuldgefühle, als ich erkannte, was ich mir selbst mit all den Selbstverraten angetan hatte und auch Scham, weil ich nicht gut für mich gesorgt hatte. Um am Ende zu erkennen: Wie ich es drehe und wende, es gibt keinen Umweg, der Weg führt genau dadurch.

Wut zuzulassen war ein weiterer Schlüssel: Wut auf die Ungerechtigkeit, Wut auf das Versagte, Wut auf den verstorbenen Bruder, Wut auf die Familie, Wut auf mich selbst, Wut auf alle, die tatenlos zugesehen hatte. Sie brannte wie Feuer, bis ich sie anerkannte. Ich erinnere mich, dass ich einst wahnsinnige Angst vor meiner Aggression hatte. Heute ist sie meine Freundin, die mir hilft, mich abzugrenzen.

Schließlich wurde sie zu Trauer. Ich glaube, sie ist für mich die am schwersten zu ertragende, gleichzeitig aber auch die wertvollste Emotion. Denn hinter der Trauer wartete das verletzte kleine Kind, das ich vor mir zeitlebens selbst verborgen hatte. Und mit ihm Weichheit, Liebe, Authentizität und echte Lebendigkeit.

Kakteen in der Wüste: Die Lebensfeindlichkeit der Umgebung, in der das Ersatzkind aufwächst nötigt es, eigene Abwehrmechanismen zu entwickeln. Es trennt sich von seinem wahren Selbst um überleben zu können.

Die Gefahr ist vorüber

Aus meiner eigenen Erfahrung möchte ich dir, wenn du damit auch zu kämpfen hast, folgenden Rat geben:

  • Gefühle sind Verbündete. Lass sie zu. Du kannst sie vor anderen verbergen. Aber nicht vor dir selbst.
  • Gefühle zeigen dir deine Bedürfnisse. Schau genau hin.
  • Mach dir bewusst, was deine Werte sind. Was ist dir, ganz allein dir, wirklich wichtig im Leben? Was war schon immer eine Sehnsucht von dir? Und was sind Fremdaufträge, von denen du meintest, sie erfüllen zu müssen. Ja, vielleicht, von denen du meintest, sie wollen zu müssen? Wenn du auf deine Gefühle ganz genau achtest, dann wirst du den Unterschied spüren.
  • Verabschiede dich von der Rolle des Retters, der Helfenden. Damit meine ich nicht, niemandem mehr zu helfen. Aber erkenne, dass dich die Rolle des Retters nicht retten wird. Und dass das auch heute gar nicht mehr erforderlich ist. Hilf anderen, wenn es dir möglich ist und du das möchtest. Aber opfere dich nicht. Glaub mir: Die Belohnung für Selbstverrat wird nie so hoch ausfallen wie der Preis, den du dafür zahlst.
  • Setze Grenzen, sobald andere deine Gefühle verletzen, deine Rechte missachten. Das ist kein Mangel an Loyalität. Das ist ein Statement für deine eigene Würde.
  • Hinterfrage jede Form von Schuldzuweisung oder Entwertung, die dir begegnet: Ist sie berechtigt? Oder versucht ein anderer dich zu manipulieren?

Eine kleine Warnung: Wenn du beginnst, dich abzugrenzen, wird nicht jeder damit einverstanden sein. Insbesondere jene, die zuvor von dir profitiert haben, werden ihre Anstrengung verdoppeln, dich doch auf die eine oder andere Art wieder ins alte Muster zurückzuziehen. Betrachte das als „Erstverschlimmerung“ bevor es aufhört: Es zeigt dir, welche Bindungen dir guttun. Und von welchen du dich verabschieden darfst.

Und was immer auch geschieht: Du bist erwachsen.

Ziegenbock in blühender Wiese als gegenbild zum Bock in der Wüste. Das Ersatzkind darf nun aus der inneren Fülle leben und muss nicht in der Wüste verhungern.

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