Wenn Whataboutism die Wunden vertieft
„Dein Schmerz in allen Ehren. Aber hast du mal an deine Eltern gedacht?“
Ich käme nie auf den Gedanken, den Schmerz über den Tod eines Kindes gering zu schätzen. Ganz im Gegenteil: Ich glaube, wir Ersatzkinder wissen über das Leid der Eltern mehr, als ein Kind jemals wissen sollte. Und doch höre ich diesen oder einen ähnlichen Satz mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit in jedem Gespräch, jedem Interview, das ich über das Ersatzkindsyndrom führe. Er kommt reflexartig, nicht selten begleitet von Gestik und Mimik, die mich fühlen lässt, als wäre ich ein empathieloses, undankbares, egoistisches Monster.
„Du weißt ja gar nicht, wie schlimm es ist, ein Kind zu verlieren.“
Noch bevor mein bewusstes Denken kontern und mich schützen kann, trifft der Satz wie ein Faustschlag in den Magen. Sofort verschiebt sich der Fokus. Die alten Schuldgefühle stehen Gewehr bei Fuß und bringen mich zum Schweigen. Zum Relativieren, Verstehen, zum Mitfühlen und Abwiegeln: Augenblicklich verschwindet mein Schmerz im Schatten des gesellschaftlich akzeptierten und in der allgemeinen Wahrnehmung für weitaus größer erachteten Leids der Eltern. Trauer als Nullsummenspiel.
Das unfaire Spiel des Whataboutism
Dieses rhetorische Manöver hat einen Namen: Whataboutism. Es klingt nach Verständnis, ist aber eine elegante Flucht aus echter Begegnung. Statt zuzuhören, wird das Thema gewechselt: Was ist denn mit dem Schmerz der Eltern?
Die Botschaft dahinter: Deine Gefühle zählen nicht.
Für Ersatzkinder – Kinder, die geboren wurden, um die Lücke eines verstorbenen Geschwisters zu schließen – ist dies die Luft, die sie von Anfang an atmen. Sie durchzieht ihre Biografie wie ein roter Faden: Sei dankbar, dass du leben darfst. Mach es wieder gut. Und beschwere dich bloß nicht.
Genau hier beginnt die Falle, in der persönlicher Schmerz zum Schweigen verdonnert wird, während man selbst zur Projektionsfläche für das Unaussprechliche wird. Das daraus resultierende Leid versteckt sich schamhaft hinter einem beschwichtigenden Lächeln: „Schon gut.“
Nein. Gar nichts ist gut.
Whataboutism bezeichnet eine rhetorische Abwehr- oder Ablenkungsstrategie, bei der auf eine Kritik nicht inhaltlich eingegangen wird, sondern mittels eines Gegenvorwurfs („Aber was ist mit …?“) das Thema verschoben oder relativiert wird.
Whataboutism schlägt mitten in die Wunde hinein
Wenn Eltern nach dem Tod eines Kindes ohne ausreichende Trauerarbeit erneut schwanger werden, entsteht oft eine stille Erwartung: Das neue Baby soll die Lücke füllen, die der Verlust gerissen hat. Schon 1964 beschrieben Cain & Cain dieses Phänomen als Replacement-Child-Syndrom; seither zeigen Studien, dass solche Kinder in eine Identität hineingeboren werden, die ihnen nicht gehört.
Aktuelle Forschung zeigt, dass das ungelöste Trauma der Eltern die Bindung qualitativ verändert: Die Mutter bleibt im besten Falle emotional ambivalent, das Kind entwickelt ein diffuses, fremdbesetztes Selbstgefühl und tiefe Schuld, „überlebt“ zu haben
Neuere Arbeiten rücken die langfristigen Folgen ins Licht. Üstündag-Budak, Psychologin aus der Türkei, zeigt auf, dass Ersatzkinder häufiger Bindungsschwierigkeiten und erhöhte Somatisierung zeigen, wenn die elterliche Trauer nicht integriert ist. Parallel weisen Erfahrungsberichte darauf hin, dass viele Betroffene jahrzehntelang zwischen zwei Extremen schwanken: hyperangepasstes „Funktionieren“ oder Rebellion gegen das unsichtbare Ideal des verlorenen Geschwisters. Der gemeinsame Nenner: Die eigene Existenz wird als Stellvertreter-Mission wahrgenommen. Einem eigenständigen Lebensweg zu folgen, erscheint wie ein Sakrileg.
Wer so aufwächst, lernt früh, dass seine Gefühle nur dann Platz haben, wenn sie den Schmerz der Eltern lindern. In genau diese schon früh geöffnete Kerbe schlägt der Whataboutism: „Hast du mal an deine Eltern gedacht?“
Die doppelte Entwertung
Whataboutism ist ein rhetorischer Kontaktabbruch: Statt auf das vorgetragene Leid einzugehen, lenkt das Gegenüber das Thema auf ein „noch größeres“ Problem. Eine Methode, die gern genutzt wird, um Kritik abzublocken und Verantwortung zu verschieben, ohne offen zu widersprechen.
Im Gespräch mit Ersatzkindern dient es oft dazu, um sich mit einem emotional belastenden Thema nicht auseinanderzusetzen, eigene Glaubenssätze und kollektive Mythen nicht zu hinterfragen: Der Effekt: Die ursprüngliche Botschaft wird entwertet, der Sprecher oder die Sprecherin subtil zum Schweigen gebracht. Menschen, die emotionalen, körperlichen oder sexuellen Missbrauch in ihrer Kindheit erlebt haben, können ein Lied davon singen.
Für Ersatzkinder wirkt dieser Mechanismus wie ein Verstärker der alten Familienrolle. Ihr Dilemma „nur deshalb leben dürfen, weil ein anderes Kind starb“ ist bereits ein moralisches Paradox. Kommt nun der gesellschaftliche Reflex „Aber denk doch an den Schmerz deiner Eltern!“ hinzu, entsteht doppelte Entwertung:
- Erstens wird der eigene Verlust (Identität, Autonomie) nicht als legitime Trauer anerkannt – ein klassisches Beispiel für entrechtete Trauer. Eine Trauer, der soziale Legitimität verweigert wird.
- Zweitens wird die historische Schuldrolle fortgeschrieben: Du existierst nur, um den elterlichen Schmerz zu lindern; also stell deine Gefühle hinten an.
Das zarte erste psychische Aufbegehren des inzwischen meist erwachsenen Ersatzkindes („Ich darf fühlen, was mir fehlt“) prallt auf den gesellschaftlichen Whataboutism, das Echo der Kindheit („Vergiss dich, sprich über das Leid der Eltern“).

Die Gesellschaft setzt den Missbrauch fort
Das Ergebnis ist Schweigen: Das schon damals zum Verstummen gezwungene Kind bleibt unsichtbar, während es brav die Trauer anderer weiterträgt. Ein Leben lang.
Kindheit unter Vergleichsdruck
Schon in der Wiege begegnet Ersatzkindern ein unsichtbarer Maßstab: das verstorbene Geschwister. Der Auftrag, das verstorbene Kind zu ersetzen, die Lücke zu füllen, das Leid ungeschehen zu machen, ist in vielen Familien bis heute unausgesprochen, aber wirksam.
- Eltern, die ihren Verlust nicht verarbeitet haben, projizieren Erwartungen und Ängste auf das nachgeborene Kind; dessen eigene Identität wird von Anfang an überlagert, unterdrückt, unbewusst in die ersehnte fremde Form gepresst.
- Jede Leistung wird mit der mythischen Perfektion des toten Kindes gemessen: „Dein Bruder hätte das besser gekonnt.“
- Gleichzeitig sendet das Familienskript die Botschaft: „Beschwer dich nicht, du darfst leben.“ Daraus entstehen Schuld- und Schamgefühle sowie das Gefühl, den Eltern „etwas schuldig“ zu sein.
- Forschungen zeigen, dass überlebende Geschwister schon innerhalb des ersten Jahres nach dem Tod des Angehörigen erhöhte Angst- und Depressionswerte aufweisen und sich noch Jahre später überangepasst oder hyperreif verhalten.
Parentifizierung als Überlebensstrategie
Wenn Mutter und Vater in Trauer erstarren, übernimmt das Ersatzkind oft emotionale Fürsorge: Trost spenden, Haushalt managen, Harmonie wahren. Die Literatur fasst das als Parentifizierung – eine Rollenumkehr, die zwar kurzfristig Stabilität schafft, langfristig aber zu Bindungsangst, Selbstverleugnung und psychosomatischer Belastung führt.
Parentifizierung (Rollentausch) bezeichnet in der Familien- und Entwicklungspsychologie eine dauerhafte Umkehr der Alters- und Funktions-rollen, bei der ein Kind Aufgaben oder Verantwortlichkeiten übernimmt, die eigentlich erwachsenen Bezugspersonen zukämen.
Überlebensschuld
In der Trauerarbeit wird es Überlebensschuld genannt: Das lebende Kind fühlt sich schuldig, „statt“ des anderen am Leben zu sein.
Berichte von Geschwistertrauer zeigen typische Selbstvorwürfe: „Meine Eltern wären glücklicher, wenn ich gestorben wäre.“ Weil auch diese Gefühle in der Regel von der Gesellschaft so stark abgewehrt werden, dass das Kind früh lernt, sie nicht zu äußern, internalisieren Ersatzkinder sie als Dauerauftrag: Funktionieren statt fühlen.
Das engmaschige Netz aus Vergleichsdruck, Parentifizierung und Schuldgefühlen bindet das Kind loyal an das Familiensystem. Es prägt sein Erleben von Bindung, Nähe, Leistung und dem eigenen Wert. Noch Jahrzehnte später gestaltet sich eine gesunde Ablösung vom Elternhaus sowohl physisch als auch emotional ungeheuer erschwert.
Langzeitfolgen im Erwachsenenalter
„Ich existiere, und gleichzeitig tue ich es nicht.“
Ersatzkinder, die ihre Kindheit im Dienst der elterlichen Trauer verbracht haben, tragen das alte Skript oft unbemerkt in Studium, Beruf und Partnerschaft. Viele berichten von einem anhaltenden Gefühl, nicht richtig da zu sein – als lebten sie das Leben „eines anderen“. Klinische Fall- und Interviewstudien beschreiben typische Kernsymptome:
- Die eigene Identität ist unklar
- Die Tatsache, zu leben, ist schuldbeladen.
- Selbstfürsorge oder das Erleben von Glück ist mit Scham behaftet.
- Autonomie wird als Verrat an den Eltern erlebt.
Die jahrzehntelange Anpassung hat auch körperliche Folgen. Eine norwegische Register-Analyse mit über 550 000 Erwachsenen zeigt, dass Menschen, die in Kindheit oder früher Jugend ein Geschwister verloren, noch mit Mitte 40 signifikant häufiger wegen psychischer und kardiovaskulärer Probleme hausärztliche Hilfe in Anspruch nehmen Besonders ausgeprägt war der Effekt, wenn der Tod des Geschwisters auf Suizid zurückging.
„Ich diene nur.“
Ein zweiter Risikofaktor ist die chronische Parentifizierung: Wer früh zum emotionalen Stützpfeiler der Eltern wurde, zeigt laut einer Studie erhöhte Raten von Angst- und Depressionsstörungen, aber auch eine Tendenz zu überhöhter Leistungsorientierung und Burn-out in der Lebensmitte.
Üstündag-Budak und andere Forscher weisen darüber hinaus nach, dass ungelöste Ersatzkinder-Dynamiken die Paarbeziehung prägen: Überanpassung, Angst vor Verlust sowie ein „Therapeuten-Modus“ gegenüber dem Partner oder der Partnerin gehören zu den Häufigkeitsbefunden. Es liegt auf der Hand, dass Ersatzkinder auf diese Weise eine hohe Wahrscheinlichkeit haben, auch in der Zukunft in missbräuchliche Beziehungen zu geraten bzw. sich schwer daraus lösen zu können.
Kurz gesagt: Was als Kindheitsrolle begann, wirkt noch Jahrzehnte später in Körper und Seele weiter. So lange, bis das Tabu gebrochen, die eigene Geschichte laut ausgesprochen, gehört und anerkannt wird.
„Ich darf nicht aufbegehren.“
Wie schwer so ein Tabubruch auch noch nach Jahrzehnten wirkt, habe ich selbst vor wenigen Tagen in einem kunsttherapeutischen Workshop erlebt: Panik, Hitze im Körper, stechende Schmerzen in der rechten Hüfte, so dass ich kaum noch laufen konnte.
Was hatte ich getan: Ich hatte auf einer Leinwand eine dünne Linie zwischen zwei Gestalten gesetzt, die in meiner Vorstellung Mutter und meinen verstorbenen Bruder repräsentierten. Fünf Jahrzehnte nach meiner Geburt, fünfundfünfzig Jahre nach dem Tod meines Bruders und zwanzig Jahre nach dem Tod meiner Mutter war das Tabu noch immer fest in meinen Zellen gespeichert: „Ich darf nicht zwischen sie treten.“
Genau in diesem Moment sagte man mir diesen Satz:
„Dein Schmerz in allen Ehren, aber es ist das Schlimmste für Eltern, ein Kind zu verlieren.“
Er traf mitten ins offene Herz. Und ich reagierte zunächst wie gewohnt: Lächelnd, verständnisvoll: Rechtfertige dich, relativiere dich, bleib freundlich.
Meine Hüfte brannte wie Feuer.
Doch dann konnte ich parieren: „Ja genau, und genau den bekommt ein Ersatzkind in voller Wucht ab.“
Und sofort ebbte der Schmerz ein wenig ab und die Gefühle konnten sich ihren Raum nehmen.

Wissen hilft, sich gegen die reflexhafte Abwehr im Gesprächspartner zu behaupten. Und genau das ist der Grund, weshalb ich hier schreibe.
Auswege aus der Falle
- Gewähre deinem Schmerz die Legitimation, die alle anderen ihm verweigern!
Trauer, die niemand bestätigt, bleibt im Verborgenen und nährt Scham- und Schuldgefühle. Benenne sie und stehe dazu, ganz gleich, ob andere sie nicht verstehen wollen. Du selbst gibst deiner Trauer damit den Raum, den sie verdient. Du selbst erkennst sie an.
- Gib die Verantwortung zurück!
Kein Schmerz der Welt rechtfertigt es, ihn bewusst oder unbewusst auf einem unschuldigen, vertrauenden, liebenden Kind abzuladen. Es war und es bleibt unfair. Wenn dir das selbst klar ist, dann kannst du auch gelassener auf Menschen reagieren, die diesen Missbrauch gerne an dir fortführen wollen.
- Steige aus dem Spiel aus!
Suche gezielt nach Beziehungen und Situationen, in denen du nicht die Rolle des immerwährenden Trostspenders übertragen bekommst, die Retterin sein musst, die übermenschliches leistest, oder gar zum Sündenbock erklärt wirst. Spüre bewusst, wie sich das anfühlt. Lass das nach und nach zu deiner neuen Normalität werden.
- Erobere deine Stimme zurück!
Wenn dieser oder ein ähnlicher Satz auch in dir noch nachklingen sollte: „Dein Schmerz in allen Ehren. Aber…“ Dann nimm dir doch täglich ein paar Minuten Zeit, und formuliere für dich ein Gegenargument. Eines, das deinen Schmerz anerkennt. Deiner Trauer Raum gibt. Das dir deine Stimme zurückgibt und dich deinen Wert jenseits aller Rollen spüren lässt.
Schicksalsschläge laden nicht zum Wettbewerb ein.
In Bezug auf das Leid eines Menschen verbietet sich jeder Vergleich.
Lasst uns laut werden, lasst uns laut werden.
Jennifer López. Let’s get loud.
Dreht die Musik auf, um diesen Sound zu hören.
Lasst uns laut werden, lasst uns laut werden.
Es gibt niemanden, der der dir erzählen kann, was du tun sollst.
Pingback: KW31/2025: Alle TCS-Blogartikel - The Content Society
Hallo liebe Frances, danke dir für diesen Artikel und deinen Schlusssatz: „In Bezug auf das Leid eines Menschen verbietet sich jeder Vergleich.“ Ich erlebe oft in meiner Arbeit, dass man selbst denkt, man sei ärmer, kränker, unglücklicher etc. als jemand anderes. Oder eben, wie du berichtest, andere seien dies. Was da gesagt wird, ist fehlendes Bewusstsein par excellence. Denn Leiden ist subjektiv und kann nicht verglichen werden. Es ist sogar so, dass man durch den Vergleich das Leiden von einem Selbst oder des Anderen mehrt – also Mitleid für sich selbst oder jemand anderes statt Mitgefühl. Und ich bin davon überzeugt, dass dieser Vergleich dazu führt, dass wir destruktiv zu uns selbst und unserem Umfeld sind. Deswegen wünsche ich mir von Herzen, dass jeder ein Recht auf Anerkennung seines Leidens hat. Nicht um darin zu verharren, sondern um sich selbst nicht verleugnen zu müssen. Erst wenn etwas sein darf, können wir heile werden. Deswegen nochmals Danke für deinen Artikel.