Individuation: Die Reise zum Selbst

Lesedauer 4 Minuten

Auf der Reise zum Selbst

Ersatzkinder

"Das Privileg des Lebens ist es, der zu werden, der man wirklich ist."
- Carl Gustav Jung

Leben lernen im Schatten eines Toten

Ersatzkinder leben unter dem Einfluss eines verstorbenen Ideals, dem sie nie gerecht werden können.
Das unterschätzte Leid der Ersatzkinder

„Ich darf nur leben, weil du sterben musstest.“ – Wie prägt solch ein Gedanke die Entwicklung und das weitere Leben? Über Überlebensschuld, Selbstzweifel und das Finden der eigenen Identität. 

Werde ich nach meinem verstorbenen Bruder befragt, komme ich mir vor wie eine Betrügerin. Auch wenn ich die Wahrheit sage. Nichts davon fühlt sich richtig an. Im Frühjahr 1970 lief Jörg in ein Auto und erlitt ein Schädel-Hirn-Trauma. Die Ärzte kämpften um sein Leben. Doch der Zehnjährige erwachte nicht mehr aus dem Koma, und nach einigen Monaten wurde die Herz-Lungenmaschine abgestellt. Vermutlich im Herbst. Im Januar 1974 kam ich zur Welt. Mutter wünschte sich einen Jungen. Ich wurde ein Mädchen.

Spurensuche in der Biografie nach dem eigenen Sein
Warum schreibe ich hier?

Nicht jeder schneidet sich ein Ohr ab, aber das Schicksal van Goghs ist kein Einzelfall: Zahlreiche Menschen leiden unter Gefühlen der Minderwertigkeit, unerklärlicher Selbstsabotage, Selbstverletzung und Depressionen, ohne dass es einen Grund dafür zu geben scheint. Dabei könnte dieser – wie bei van Gogh – in der unverarbeiteten Trauer der Eltern über ein verstorbenes Geschwisterkind liegen.

Im Erwachsenenalter leiden Ersatzkinder häufig unter Ängsten, Depressionen, Überlebensschuldgefühlen, selbstverletzendem Verhalten, Risikosucht und Suizidgedanken. Da ist ein Gespenst, gegen das man nicht gewinnen kann. Und die immerwährende Frage: „Wann bin ich gut genug?“

Ich bin so ein Ersatzkind.

Mein Name ist Frances Dahlenburg. Ich bin eine von Tausenden und Abertausenden. Wie so viele wusste ich bis vor Kurzem noch nicht, wonach ich suchte. Das hier ist meine Geschichte.

Es ist nie zu spät, sich selbst zu finden

Es ist eine Reise, ein Abenteuer, Schritt für Schritt zur eigenen, unverwechselbaren Einzigartigkeit zu finden. Zu all den Bedürfnissen, Zielen und Gefühlen, die unterdrückt werden mussten, um dem Bild des idealisierten Anderen zu entsprechen. Zum Selbst. Manchmal ist es ein wenig schmerzhaft, manchmal traurig. Doch immer spannend und bereichernd. Der Psychoanalytiker Carl Gustav Jung bezeichnete dies als den „Weg der Individuation“.

So lange wir atmen, entwickeln wir uns. In jedem Alter – wenn wir es zulassen. Es ist ein Weg, der sich lohnt. Hier teile ich meine Gedanken und Erfahrungen.

Frances Dahlenburg Journalistin
Individuation heißt das eigene Leben in seinen Farben erkennen. Bild: junger afrikanischer Mann zeichnet einen bunten Löwen
Ich habe erfahren, dass es möglich ist.

Wenn sich der Nebel lichtet

... ich hatte die ganze Zeit eine Gänsehaut. Endlich weiß ich, dass ich nicht verrückt bin, mir nichts eingebildet habe, all die Jahre. In jedem der Artikel auf deiner Seite finde ich mich wieder. DANKE dass ich mit fast 44 Jahren erfahren darf, es gibt Hoffnung auf eine eigene Identität und man darf ankommen. Ich wünsche Dir alles Glück das DU dir wünschst. .
Neuer Spross in abgeholztem Baum als Symbol für Resilienz
Magdalena
Eine Leserin

Verwaiste Eltern - vereinsamte Ersatzkinder

Die Vision einer Aussöhnung

„Ich gehe davon aus, dass es unendlich viele Familien gibt die in irgendeiner Form damit zu tun haben. Wir haben zwei Weltkriege gehabt in Deutschland, wir haben den Holocaust, wir haben jetzt wieder eine Situation, in der Menschen zu uns kommen nach Deutschland, die Familienmitglieder verloren haben, Kinder verloren haben. Wir haben so einen Schmerz in der Gesellschaft und wir haben aber auch so einen Wunsch, diesen Schmerz zu bewältigen, dass ich davon ausgehe, dass sehr viele Menschen in irgendeiner Form auch geboren worden sind, mit diesem Wunsch: Möge doch der Schmerz ein wenig besser werden.

Und vielleicht kann ich auch ein bisschen positiven Ausblick geben, aus eigener Erfahrung …“

 

Ich durfte dieses Gespräch mit Thomas Schnura vom Verband Freier Psychotherapeuten, Heilpraktiker für Psychotherapie und Psychologischer Berater im Frühjahr 2025 führen: Ein schmerzerfüllter Vater, der seine Tochter verloren hat, trifft auf ein schmerzerfülltes Ersatzkind, das den Verlust des Bruders niemals wettmachen konnte. 

Eine zarte, respektvolle und sehr ehrliche Annäherung, die Mut, Verständnis und Hoffnung schenkt. 

"Da habt ihr euch einem herausfordernden Thema angenommen. Ich hatte Tränen in den Augen. Und es zeigt wieder, wie wichtig es ist, die Wunden in unserer Biographie zu heilen. Herzlichen Dank!"
Die Verstorbenen hinterlassen Spuren ihrer Präsenz
Eine Youtube-Kommentatorin
"Ich habe mir den Schmerz angeschaut. Und ich habe mir die Wut angeschaut. ... Ich habe gespürt, diese Wut, die ich heute in mir trage, die gehört dem kleinen Mädchen, gehört der kleinen Frances. Die gehört nicht mir. Und als mir das bewusst geworden ist, konnte ich die loslassen, konnte den Jungen sehen ... Und dann habe ich innerlich gesagt: So mein Kleiner, ich bin deine große Schwester und ich nehme dich jetzt an die Hand und jetzt gehen wir beide raus ins Leben ... Das ist so ein wunderbarer, versöhnlicher Moment.

Und das ist möglich."
Portrait Frances aktuell
Frances Dahlenburg
Im Interview mit dem VFP, April 2025

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Frances Dahlenburg 46483 Wesel Dammweg 6

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