Auf der Reise zum Selbst
Ersatzkinder

Leben lernen im Schatten eines Toten

Das unterschätzte Leid der Ersatzkinder
„Ich darf nur leben, weil du sterben musstest.“ – Wie prägt solch ein Gedanke die Entwicklung und das weitere Leben? Über Überlebensschuld, Selbstzweifel und das Finden der eigenen Identität.
Werde ich nach meinem verstorbenen Bruder befragt, komme ich mir vor wie eine Betrügerin. Auch wenn ich die Wahrheit sage. Nichts davon fühlt sich richtig an. Im Frühjahr 1970 lief Jörg in ein Auto und erlitt ein Schädel-Hirn-Trauma. Die Ärzte kämpften um sein Leben. Doch der Zehnjährige erwachte nicht mehr aus dem Koma, und nach einigen Monaten wurde die Herz-Lungenmaschine abgestellt. Vermutlich im Herbst. Im Januar 1974 kam ich zur Welt. Mutter wünschte sich einen Jungen. Ich wurde ein Mädchen.

Warum schreibe ich hier?
Nicht jeder schneidet sich ein Ohr ab, aber das Schicksal van Goghs ist kein Einzelfall: Zahlreiche Menschen leiden unter Gefühlen der Minderwertigkeit, unerklärlicher Selbstsabotage, Selbstverletzung und Depressionen, ohne dass es einen Grund dafür zu geben scheint. Dabei könnte dieser – wie bei van Gogh – in der unverarbeiteten Trauer der Eltern über ein verstorbenes Geschwisterkind liegen.
Im Erwachsenenalter leiden Ersatzkinder häufig unter Ängsten, Depressionen, Überlebensschuldgefühlen, selbstverletzendem Verhalten, Risikosucht und Suizidgedanken. Da ist ein Gespenst, gegen das man nicht gewinnen kann. Und die immerwährende Frage: „Wann bin ich gut genug?“
Ich bin so ein Ersatzkind.
Mein Name ist Frances Dahlenburg. Ich bin eine von Tausenden und Abertausenden. Wie so viele wusste ich bis vor Kurzem noch nicht, wonach ich suchte. Das hier ist meine Geschichte.
Es ist nie zu spät, sich selbst zu finden
Es ist eine Reise, ein Abenteuer, Schritt für Schritt zur eigenen, unverwechselbaren Einzigartigkeit zu finden. Zu all den Bedürfnissen, Zielen und Gefühlen, die unterdrückt werden mussten, um dem Bild des idealisierten Anderen zu entsprechen. Zum Selbst. Manchmal ist es ein wenig schmerzhaft, manchmal traurig. Doch immer spannend und bereichernd. Der Psychoanalytiker Carl Gustav Jung bezeichnete dies als den „Weg der Individuation“.
So lange wir atmen, entwickeln wir uns. In jedem Alter – wenn wir es zulassen. Es ist ein Weg, der sich lohnt. Hier teile ich meine Gedanken und Erfahrungen.

