Wessen Leben lebe ich?

Mein Bruder war zehn, als er starb. Sie sagen, ich schulde ihm Dank.

2021

Ich habe auf der ganzen Linie versagt.

Neonlicht dringt durch schwere Fensterläden. Umrisse von Büchern werden darin sichtbar. Ich habe sie nur zur Hälfte gelesen. In der Ferne bellen Straßenhunde. Sie kämpfen um Reste, die für andere unverdaulich sind. Um mich herum herrscht Totenstille. Ich liege auf meiner fauligen Matratze und starre ins Dunkel. Nässe in der Luft. Es gibt keinen Grund, das Licht anzuschalten, um die Risse im Deckenputz zu sehen. Es ist eine Frage der Zeit, dass er herunterfällt. Ich warte.

Fünfhundert Personen sind heute in einem Krieg gestorben und fünfundzwanzigtausend an Krebs. Für die Eltern von zwanzigtausend Kindern brach eine Welt zusammen. Zweitausend Menschen suchten verzweifelt den Tod. An einen Gott glaube ich schon lange nicht mehr.
Ich ziehe die Decke ein wenig höher. Die Winter am Atlantik sind kalt und feucht in Argentinien. Die Häuser nicht gedämmt. Ich rolle auf die Seite. Rieche den Schimmel. Gehe in Embryostellung. Auf die Knie. Worauf warte ich?

Neben dem Herd springt mit leisem Klicken die Gastherme an. Ich höre die Flammen zischen und wundere mich, dass ich so ruhig dabei bleibe.
Morgen früh wird das Wasser gerade warm genug sein, um zu duschen. Ich werde das Licht ausschalten, um keinen elektrischen Schlag zu riskieren. Dann werde ich die Tür einen Spalt offenlassen und den Deckel der Toilette schließen. Die Dusche besteht aus einer einfachen Rohröffnung, die aus der Wand ragt. Ich werde mich darunter stellen und zusehen, wie die Spritzer auf den fast blinden Spiegel über dem Waschbecken treffen.

In zwei Schritten werde ich den Stuhl erreichen, auf dem das Handtuch liegt. Dabei werde ich sandige Füße bekommen. Drei weitere Schritte braucht es, um die schiefe Tür des Einbauschranks zu erreichen und sie mit einem lauten Quietschen aufzuschieben. Ich werde wahllos Wäsche und Shirt greifen. Fünf Schritte weiter stehe ich vor der Spüle, in der die Tasse vom Vortag liegt. Ich werde Streichhölzer suchen, den Gasherd anzünden und mir einen billigen Pulverkaffee aufbrühen. Die dunkle Metalltür zum Garten öffnen, um Licht zu haben. Mit etwas Glück finde ich eine angebrochene Schachtel Zigaretten. Schließlich werde ich mich an den Schreibtisch setzen und den Rechner hochfahren. Und warten.

Vielleicht, wenn alles gutgeht, dann nehme ich mein Handy und gehe zum Meer. Ein paar Bilder vom Strand zeigen an, dass ich lebe, Facebook-Likes verringern die Einsamkeit. Falls es ein guter Tag ist, erhalte ich sogar den einen oder anderen Kommentar.

Verbundenheit. Als säße ich nicht allein in einem ausgestorbenen Nest, von dem ich vor einigen Wochen noch nicht einmal den Namen kannte. Zwölftausend Kilometer entfernt von dem Ort, an dem ich mir ein Leben aufgebaut hatte. Dort, am Beginn der schiefen Bahn, die langsam aber folgerichtig genau hier her führte. Ich gehe davon aus, dass mich niemand vermisst.

Mit einem Klick schalten die Gasflammen ab. Die Hitze ist groß genug und es ist, als würde genau dieses unschuldige Geräusch den Orkan zum Tosen bringen: Worauf warte ich? Das hier, nur das ist es, was von siebenundvierzig Jahren Leben übrig geblieben ist: Die winzige Ferienwohnung in Mar de Ajó, in der ich allein auf einer dreckigen Matratze liege und mich von Kaffee, Whisky und Zigaretten ernähre. Ein paar Bücher, ein wenig Geschirr, zusammengewürfelte Möbel und ein halber Schuhkarton mit alten Bildern. Verschuldet, ausgemustert und allein. Ich ertränke mein Leben in Alkohol, kiffte mir die Birne weg und glaube dabei immer noch, ich sei die Macherin, die nur wieder durchzustarten bräuchte. Wie um alles in der Welt schaffte ich es, mir all das vorzumachen? Bilder von dem, was einmal war und hätte sein sollen, ziehen vor meinem inneren Auge vorbei. Ideen von dem, was ich für eine Identität gehalten hatte, Vorstellungen von mir, die ich nicht spüre. Aufgaben, die ich nicht im Ansatz erfüllte, und von denen ich nicht einmal ahne, was sie mit mir zu tun hatten. Was immer mich hier her verschlagen hat: Es ist das Gegenteil von dem, was man von mir erwartet hatte.

Sie haben gewonnen.

1977

Vati kommt heute früher nach Hause!

Ich kann meine Aufregung nicht zügeln, bin ständig am Plappern. Heute kann ich früher aus dem Kindergarten nach Hause denn Vati hat den halben Tag frei genommen um mit mir zu spielen. Das kommt nicht oft vor, denn eigentlich arbeitet er den ganzen Tag. Er geht aus dem Haus, wenn ich schlafe und kommt erst spät wieder zurück.
Vati ist wichtig. Manchmal bringt er mir etwas zum Spielen mit, langes Papier, das an den Seiten gelocht ist. Ich male so gerne und Vati sitzt dann daneben und freut sich. Es ist immer ein ganz besonderes Geräusch, wenn der Schlüssel klappert und ich höre wie er die Tür aufschließt. Ich renne dann in den Flur, denn ich weiß, es wird fröhlich und warm. Er strahlt, stellt seine braune Aktentasche auf die Kommode und schaut mich mit erwartungsvollen Augen an. »Hast du mir etwas mitgebracht?«, frage ich.

Und dann holt er das Papier aus der Tasche und ich laufe ins Wohnzimmer. Nein, vorher gehe ich noch in die Küche, denn dort, in einem kleinen Körbchen, liegen die Bleistifte. Ich muss ein bisschen vorsichtig sein, denn bei manchen von ihnen kann man die Striche wieder wegradieren und bei manchen nicht. Ich muss ein wenig Spucke auf die Bleistiftspitze machen. Malt der Bleistift dann blau, kann man ihn nicht radieren, sonst schon.

Das Wohnzimmer hat weiße Tapeten. Orange-braune Vorhänge an großen Fenstern. Das Muster sieht aus wie Flammen. Hier gibt es Blumen. In hellbraunen Regalen stehen Bücher hinter Glasscheiben. Und viele bunte Schnapsgläser. In einem der glänzenden Schränke liegt Vaters Trompete in einem schwarzen Koffer. Er hat sie nach ganz oben gelegt, damit ich sie nicht nehme und kaputt mache. Darunter Noten. Dann gibt es noch ein Schränkchen mit einem Spiegel und Licht und Flaschen. Sie sind gefüllt mit braunen Flüssigkeiten.

Manchmal, spät am Abend, wenn ich nicht schlafen kann, gehe ich doch kurz zu ihnen. Durch den Raum ziehen blaue Rauchschwaden, die zwischen Zimmerdecke und Fußboden in der Luft hängen. Getöse kommt aus dem Fernseher und ich sehe Bilder, bei denen ich Angst bekomme. Gewehre, Feuer, Soldaten und Flugzeuge, Menschen schreien. Meine Eltern sind still. Ich kann mich dann eine Weile zu ihnen setzen und zusehen, bevor sie mich wieder ins Bett schicken. Die Lampe an der Decke sieht aus wie eine silberne Metallspinne mit schmalen weißen Glühbirnen an den Enden der Beine. Dunkle Bilder hängen an den Wänden, riesengroße, mit Landschaften darauf und dicken goldenen Rahmen. In so dunklen Farben, dass man die Menschen darauf kaum sehen kann. Die Bilder glänzen in ihrem Licht und man muss sich anstrengen, um etwas zu erkennen. An der Seite steht eine schmale Lampe mit Lampenschirmen, die aussehen wie eine Tulpenblüte. Und an dem Tisch in der Mitte sitze ich dann und male.

Außer dem Wohnzimmer haben wir ein Schlafzimmer, eine Küche und ein Esszimmer, das meine Eltern Parkettzimmer nennen. Es hat einen glänzenden Boden. Dort steht das Bild von Jörg. Ich nenne ihn meinen kleinen Bruder, dabei ist er auf dem Bild größer als ich. Ich habe auch noch einen großen Bruder. Er hat ein eigenes Zimmer. Ich wohne bei meinen Eltern. Hinter einem hellbraunen Vorhang neben dem großen braunen Kleiderschrank, da liegen Spielsachen und Bücher. Einige auf einem Stuhl neben meinem Bett. Die Teddys sitzen alle auf dem Kleiderschank und schauen auf das Ehebett. Tante Hertha bringt immer wieder neue mit. Aber sie schaut mir nie in die Augen.

Am Tag bin ich im Wohnzimmer oder im Esszimmer oder auch in der Küche, wo Mutti an der Schreibmaschine sitzt. Ich spiele dann auf dem dunkelgrünen Teppich und muss sehr leise sein, damit sie sich nicht verschreibt. Meine Spielsachen sind in einem Schrank. Das Entenbild darauf habe ich selbst ausgesucht.

Einmal habe ich ihr ein Bild gemalt. Eigentlich wollte ich ihr eine Freude damit machen. Sie sprang auf und schrie.
Ihre Augen werden dann immer anders. So eng. Ihr Gesicht wird weiß unter ihren pechschwarzen Haaren. Das macht mir viel mehr Angst als ihr Schreien. Ihre Augen.

Sie starrte mich an und schrie und schrie und ich machte mich ganz klein und schaute zu der gelben Ente mit einem großen Schnabel. Und Blümchen. Ich hielt mich ganz fest an dieser Ente. Ganz, ganz fest.

Doch heute kommt Vati früher nach Hause und alles wird anders sein. Darauf habe ich mich den ganzen Tag gefreut. Ich hüpfe durch den langen Korridor. Der Boden ist dunkelrot und hart und riecht streng. Manchmal liegt ein dunkelgrüner Teppich darauf, mit gelben Quadraten. Das aber nur, wenn Gäste kommen. Sonst liegt er zusammengerollt an der Seite neben dem hellgrünen Schank. Heute ist der Boden hart, doch das ist mir egal, denn Vati kommt, um mit mir zu spielen.

Ich laufe ins Wohnzimmer, Mutti bleibt hinter mir und ich muss ein bisschen warten. Sie hat ihre Haare mit einem Gummiband zusammengebunden. Ein anderes drückt in ihre Haut um das Handgelenk und macht sie ganz rot. Ihre Hände sind meistens kalt und ein bisschen feucht. Anders als Vatis Hände.
Da liegt ein Bleistift auf dem Tisch. Ich bin so aufgeregt, dass ich vergesse, die Bleistiftspitze nass zu machen und zu gucken, ob ich einen lila Finger bekomme. Und ich bin übermütig: Ich gehe ganz nah an die Tapete und male einen kleinen Punkt darauf. Einen grauen, man sieht ihn kaum.
Mutti rennt ins Wohnzimmer und reißt mir den Stift aus der Hand. Sie fängt wieder an zu schreien und wie wild an der Tapete zu reiben.

Ich habe Bauchschmerzen. Sie hört nicht auf zu schreien und zu schimpfen, rennt in die Küche und holt einen Radiergummi und reibt wieder an der Tapete. Der Punkt wird noch ein bisschen größer. Am liebsten würde ich mich unter dem Tisch verstecken. Sie packt mich am Arm und zerrt mich ins Schlafzimmer.

Ich liege ganz still und warte darauf, dass die Schlüssel klappern. Das Geräusch der Eingangstür, die aufgeht und sich wieder schließt. Seine Schritte im Flur. Jetzt ist es so weit. Bestimmt wird er jetzt kommen. Gleich. Ich warte ganz lange.
Und irgendwann schlafe ich ein.

1979

Es gibt ein Lachen, vor dem ich mich fürchte. Und Spiele, die mir Angst einjagen. Stuhltanz ist so ein Spiel. Die Reise nach Jerusalem.
Ich möchte nicht spielen, wenn meine Eltern in der Nähe sind. Sie beobachten mich, und wenn ich ausscheiden muss, lachen sie. Sie freuen sich aber nicht. Ich darf dann nicht mit den anderen Kindern zusammensein, sondern muss bei ihnen bleiben. Manchmal weine ich deswegen. So geht es mir auch, wenn wir uns um Bonbons raufen sollen. Ich bin zu langsam, sammele die wenigsten von allen ein und bin meist die Letzte, die fertig ist. Und immer stehen Vati oder Mutti dabei und lachen, wenn ich ihnen meine kleine Beute zeige. Mit so einem seltsamen Ausdruck im Gesicht. Und dann bekomme ich Bauchschmerzen, denn irgendetwas in ihren Augen sagt mir, dass sie nicht fröhlich sind.

Manchmal lachen sie die Erzieherinnen an. Wenn mir andere Kinder die Zunge herausstrecken, wird es richtig schlimm. Sie schauen mich nicht mehr an und wir müssen dann gehen. Ich mag diese Spiele nicht.
Anders ist es, wenn ich mit Vati alleine bin. Er bringt mir Fangen bei und Radfahren und sagt sogar manchmal, dass er stolz auf mich ist.

Sport hat mir Spaß gemacht. Bis die Sportlehrerin gefragt hat, ob ich die sei, die so lange eine Glatze hatte. Die anderen haben gekichert. Seither gehe ich nicht mehr dahin.

Aber ich lerne Schwimmen. Mutti bringt mich, und wie immer kommen wir meistens zu spät. Dann muss ich mich allein in der Dusche abseifen, und Mutti schimpft. »Bummelletzte« sagen die Kinder, wenn ich endlich mich einreihe und der Schwimmlehrer anpfeift.

Ich kann noch nicht richtig schwimmen, aber ich liebe Kopfsprünge. Vati hat mir das beigebracht. Ich rudere an den Beckenrand, ziehe mich heraus und springe gleich wieder. So lange, bis es den Trainern reicht.
Einmal aber habe ich eine Prüfung bestanden. Mutti saß auf der Tribüne und schaute zu. Als ich bestanden habe, hat sie mir eine kleine Anstecknadel gekauft. IIch habe mir ein kleines goldfarbenes Reh mit einem roten Glitzerstein als Auge ausgesucht. Ich liebe es. Und ich liebe sie.

Zum Glück habe ich nun Haare. Zuerst waren es weiche blonde Locken, jetzt sind sie etwas dunkler und nur noch wellig. Ich hätte sie gern lang, wie viele andere Mädchen, aber meine Mutti schneidet sie mir immer kurz. Vor allem den Pony. Sie sagt, das ist wichtig, weil meine Haare so dünn sind. Ich finde das nicht, ich möchte Zöpfe. Mutti hatte ganz lange. Doch sie sagt, sie hat viel dickeres Haar als ich. Auf Bildern sehe ich aus wie ein Junge.

Mein Bruder kämmt sie mir und ich male ihm dafür Bilder. Früher waren es kleine blonde Mädchen mit einer Schleife, später dann sein Name mit Herzen darum. Als er auszieht, lässt er es auf seiner Schrankwand vor den leeren Bücherregalen stehen.

Seither streiten sich meine Eltern ständig: Vati möchte zu meinem Bruder gehen, Mutti meint, er könne doch zu uns nach Hause kommen. Sie würde nirgendwohin gehen. In der Nacht sagt Vati, dass er daran denkt, sich scheiden zu lassen. So, dass ich nichts davon merke. Das kann ich mir nicht vorstellen. Stattdessen frage ich ihn, ob er sich nicht eine eigene Wohnung nehmen wolle. Gemeinsam mit mir.

Noch immer darf ich die Straße vor unserem Haus nicht überqueren, weil auf ihr vor einigen Jahren ein Kind überfahren wurde. Das macht mir inzwischen Sorgen, denn unsere Klasse ist in ein anderes Schulgebäude umgezogen. Und das heißt, dass ich die Einzige bin, die zur Schule gebracht wird. Mutti wird manchmal nicht rechtzeitig fertig, so kommen wir zu spät und so müssen die Lehrer sie nur für mich wieder aufschließen. Auf dem Rückweg laufe ich mit den anderen Kindern bis zur Straßenecke. Ich warte, bis Mutti kommt und mich über die Straße bringt. Einmal habe ich mich von den anderen Kindern überreden lassen und bin mit ihnen gegangen. Doch das hätte ich besser bleiben lassen. Mutti hat das gemerkt. Sie kam mir totenblass entgegengerannt, mit diesem Blick, vor dem ich mich immer so fürchte.

Ich glaube, sie hat am Erkerfenster im Parkettzimmer gestanden und mich gesehen. Dort stellt sie sich häufig hinter die Gardine, vor allem dann, wenn über uns die Klingel summt. Von den drei Fenstern aus lässt sich die ganze Straße überblicken.

Die Klassenkameradinnen fragen mich nicht mehr. Manchmal bleibt noch meine beste Freundin bei mir. Doch meistens sagt auch sie, dass sie lieber nach Hause gehen möchte. Denn oft dauert es sehr lange, bis Mutti mich holt.
»Du bist nicht umsichtig genug«, sagt sie, wenn ich sie frage, warum ich nicht mit den anderen die Straße überqueren darf. Oder: »Wir müssen das noch üben.« Das macht mir wieder Hoffnung: »Wann denn?« »Bei Gelegenheit einmal.« Und ich warte.
Es ist wegen Jörg, sagen sie. Immer wegen Jörg. Ich drehe sein Bild mit dem Gesicht zur Wand. Nachdem Mutti aufgehört hat, zu schreien, spricht sie lange nicht mehr mit mir. Ich solle Jörg dankbar sein, hatte sie gesagt. Sonst wäre ich nicht auf der Welt. Sie würde mich fallen lassen wie eine heiße Kartoffel. Und ich solle mich gefälligst schämen, dass ich so glücklich bin.
»Ich bin nun einmal nicht Jörg!« Sieht sie das denn nicht?
»Nein,« antwortet sie kalt. »Jörg bist du nicht.«
Vati sagt: »Es geht dir viel zu gut.«

In einer Schublade im Wohnzimmer finde ich ein kleines Spiel, das mir gefällt: Es besteht aus einem Plastikrahmen mit fünfzehn quadratischen Teilen, je vier mal vier in Reihen angeordnet und das letzte fehlt. Man muss diese Teile so lange hin und herschieben, bis die Zahlen in der richtigen Reihenfolge angeordnet sind. Am Tage schaffe ich es.

Nachts, in meinen Träumen, will es mir einfach nicht gelingen. Und immer dann, wenn ich kurz davor bin, die Lösung zu finden, wache ich auf.

1985

Wir richten es immer so ein, dass wir genau dann Abendbrot essen, wenn es etwas Interessantes im Fernsehen gibt. So lässt sich das Schweigen besser aushalten.

Der Esstisch ist aus schwerem polierten Holz. Mutter hat ihn, ebenso wie die Ölgemälde mit dicken Goldrahmen, von ihren Eltern geerbt. Er passt zum edlen Fußboden. Dazu hat sie lindgrüne, blickdichte Vorhänge ausgewählt. Lautsprecherboxen aus den Achtzigern sorgen für den perfekten Stereoklang. Bach, Gershwin, Beethoven und Tschaikowki. Die Schallplatten sind nach einer festen Reihenfolge angeordnet und nummeriert. Unter dem Schallplattenständer befindet sich die Liste, die von Mutter sorgsam mit der Schreibmaschine geführt und immer wieder angepasst wird Sie stehen in einem dunkelbraunen Schrank aus den fünfziger Jahren. Darüber ein schwarzes Radio aus den Siebzigern. Und rechts daneben das Foto von Jörg.

Ich habe vergessen, die Hausschuhe anzuziehen, und damit es nicht gleich wieder Stress gibt, renne ich schnell an Jörgs Foto vorbei in den Korridor und stoße dort mit Mutti zusammen. Es ist Frühsommer. Ich trage einen weiß-blau gestreiften, kurzärmeligen Strickpullover aus Mischgewebe auf nackter Haut. Mutter trägt gerade eine große Kanne Tee aus der Küche ins Esszimmer, kochend aufgebrüht. Sofort sind die Fasern mit der heißen Flüssigkeit durchtränkt.

Im ersten Moment fühlt es sich eiskalt an, im nächsten fange ich an, zu rennen, immer um den Esstisch herum. Mutti greift mich und zieht mich ins Bad, Vati hat dort schon die kalte Dusche aufgedreht. Als das Wasser meine Brust trifft, wird es besser. Sie ziehen mir den Pullover über den Kopf und starren mich entsetzt an. Ich spüre nichts mehr.

Der Blick meiner Eltern macht mir Angst also gehe ich zum Spiegel: Vom Hals abwärts, über die Brüste bis zum Rippenbogen sehe ich weiße, blasige Haut und rohes Fleisch. Dann kommt der Schmerz und ich fange an zu schreien. In den nächsten, endlos langen Minuten liege ich auf der Couch im Parkettzimmer und Mutti rennt zwischen Parkettzimmer und Küche hin und her und bringt immer wieder kühlende Umschläge, während mein Vati den Rettungsdienst ruft. »Verbrennt das Mädchen auf der Brust«, höre ich ihn. »Verbrennt das Mädchen auf der Brust«.

Die Kälte hilft nur Sekunden, dann steht mein Oberkörper wieder in Flammen. Endlich flackert das Blaulicht durch die Scheiben, und aus dem Kommentar meines Vaters schließe ich, dass es ihm unangenehm ist.

»Nicht ins Krankenhaus Köpenick!«, höre ich Mutti rufen. »Auf keinen Fall ins Krankenhaus Köpenick!«

Der erste Kommentar der Rettungsärztin: »Das gibt Narben.« Dann setzt sie mir die Spritze und bedeckt die Wunden mit einem speziellen Verband. Ich höre Mutti mit ihr verhandeln, dann fahren sie ohne mich zurück.

Ich habe keine Schmerzen mehr. Wir gehen ins Wohnzimmer, setzen uns auf die Couch. Mein Vati macht den Fernseher an und stellt eine Flasche Cognac auf den Tisch. Wir sprechen kein Wort.

Am nächsten Tag fährt Mutti mit mir zum Kinderarzt. Er behandelt die Wunde mit feuchten Verbänden, die täglich gewechselt werden. Erst von ihm selbst, später übernimmt Mutti das, so dass wir uns nicht jedes Mal auf den Weg machen müssen. Jeder Verbandswechsel ist die Hölle.

Es dauert einige Monate, bis die Rötung verschwunden ist, doch es sind tatsächlich keine Narben geblieben.

Umso schwerer fällt es mir, meinen Klassenkameradinnen zu erklären, dass ich nicht aus Faulheit in der Schule gefehlt habe und auch vom Sport nicht ohne Grund befreit bin. Zu oft war ich aus dem Sportunterricht genommen worden oder musste von der Bank aus zusehen.

Das war mir auf der einen Seite recht, denn ich war zu schüchtern für Mannschaftsspiele und entschuldigte mich meist schon vorher dafür, dass sie mit mir nur verlieren würden. Auf der anderen Seite machte mich das noch mehr zur Außenseiterin. Wenn ich dann doch dabei war, versuchte ich so linkisch zu beweisen, dass auch ich ein vollwertiges Teammitglied wäre, dass ich alles nur viel schlimmer machte. Nun werde ich erst recht nicht mehr gewählt und bleibe die Letzte auf der Bank.

»Jörg hatte da gar keine Probleme«, sagt Vater.

Wie ich es auch drehe und wende, ich bekomme keinen Fuß auf den Boden. Und es wird von Jahr zu Jahr schlimmer.

1986

Inzwischen lässt sich nicht mehr leugnen, dass ich ein Mädchen bin. Ohrringe darf ich deswegen immer noch nicht tragen. Es würde sich entzünden, meint Mutti, wenn es kein richtiges Gold wäre. Doch auch, nachdem mir eine Tante goldene Ohrringe aus dem Westen mitbringt, ist Mutti dagegen. Ich solle noch ein wenig warten.

Worauf ich jedoch auf keinen Fall mehr warten will, ist, meinen Bruder endlich wiederzusehen. Am Ostersonntag, finde ich, wäre es doch eine gute Gelegenheit, wie in den anderen Familien zu feiern. Es ist ein wunderschöner, sonniger Tag. Doch meine Eltern wollen lieber auf den Friedhof gehen. Ich verstehe nicht, warum ich mit einem Toten feiern soll, während mein Bruder doch lebt und zu uns gehört. Es ist einfach unfair. Und genauso sage ich es meinen Eltern auch: Ich werde nicht mitgehen.

Meine Eltern machen sich fertig. Als ich höre, wie sie die Tür hinter sich schließen, schreibe ich ihnen einen kurzen Brief und mache mich auf den Weg. Ich kann mich nur noch dunkel daran erinnern, wo mein Bruder wohnt, doch ich werde ihn finden. Es muss in der Nähe des S-Bahnhofes Schöneweide sein. Ich renne die Straße hinunter zum Bahnhof, S-Bahn-Fahrkarten sind nicht teuer, fahre die wenigen Stationen, steige aus und versuche, mich zu orientieren. Eine Adresse habe ich nicht, aber ich werde mich erinnern. Und so laufe ich einfach los, renne durch die Straßen, immer weiter, bis ich in eine Gegend komme, die mir bekannt scheint. Da sehe Häuserblocks, in denen ich schon einmal gewesen sein muss. Kurz dahinter die Spree. Mein Herz rast. Auf einem der Klingelschilder sehe ich dann endlich unseren Namen. Wird er da sein? Ich klingele Sturm, der Türöffner summt, ich renne die Treppen hinauf zur Wohnung: »Ich will das nicht mehr! Ich halte das nicht mehr aus.«

Er gibt mir ein Stück Schokoladenkuchen. Als ich aufgegessen habe, bringt mich mein Bruder zurück.

Schweigen

»Bist du dir eigentlich im Klaren darüber, was du dem Vati angetan hast?«

Mutters Stimme ist tonlos. Sie steht in der Küche und räumt Schubläden auf: Leere Briefumschläge, Solidaritätsmarken, Einkaufszettel und Heftklammern liegen – jeweils sauber zugeordnet – auf der Arbeitsfläche. Sie wendet den Blick davon nicht ab. Als ich antworten will, beginnt sie, laut Büroklammern zu zählen. Dann Schweigen.
»Da hast du der Mutti aber eine Lektion erteilt.« Die moderne, schneeweiße Tapete wirkt immer etwas zu grell hinter dunkelbraunen Eckcouch mit den hohen Rückenlehnen. Darüber die Uhr. Innen schwarz, außen rot, mit goldenen Kordeln und einem Ziffernblatt aus Messing. Doch Braun dominiert das Wohnzimmer. Kakteen und Alpenveilchen vor den Fenstern, neben orangefarbenen Vorhängen aus dickem Wollstoff. Die Schrankwand glänzt in hellem Ocker. Eine große Durchgangstür ins Parkettzimmer. Der Kachelofen.


Vater setzt sich mit Abstand neben mich, ganz an den rechten Rand des Sofas, als wolle er gleich wieder aufspringen und zur Tür hinausgehen. Er hat sie offengelassen. Vor uns der breite Sessel, in dem ich mich an ihn gekuschelt hatte und wir gemeinsam die Sesamstraße, Pippi Langstrumpf oder die Muppetshow gesehen hatten. Oder die Tagesschau.
Auf dem Tisch liegt der Brief. Dass ich meinen Bruder wiederhaben will, steht darin. Den, der lebt. Das wird nicht erwähnt. Stattdessen Schweigen.

Sie sehen mich nicht an, wenn sie das Essen auf den Tisch stellen. Bleiben still, wenn sie von der Arbeit nach Hause kommen. Schauen an mir vorbei, wenn sie sich vor den Fernseher setzen und eine Flasche Wein öffnen. Stille. Manchmal höre ich meinen Namen.

Ich habe den Feiertag nicht geheiligt. Ich habe meine Eltern nicht geehrt und geachtet. Ich kann nicht beichten. Hinter den rußigen Glasscheiben des Koksofens im Parkettzimmer sehe ich die Flammen. Ich bin nicht getauft. Ich weiß, wie sich eine Verbrennung anfühlt. Ich will nicht in die Hölle kommen.

»Kommst du mit zum Fluss? Wir fahren mit dem Fahrrad. Ach nein – du darfst ja sowieso nicht.« Kichern. Dann stehe ich allein auf dem Schulhof.

Auf dem Küchenschrank liegt ein dickes Buch, in Plastikfolie eingeschlagen. Es heißt »Flucht in die Wolken«. Sybille Muthesius schildert die Biografie ihrer Tochter Pony die jahrelang in DDR-Psychiatrien therapiert wird, bis sie sich mit achtzehn das Leben nimmt. Bilder und Tagebucheinträge wechseln sich ab mit der Schilderung von Behandlungsmethoden wie Dunkelkammern und Elektroschocks. Ich darf es lesen und fange selbst an, Tagebuch zu schreiben.
»Ich hätte dir das Buch nie geben dürfen«, sagt Mutter, als ich in die Wolken schaue.

Pony schreibt: »Wenn man tot ist, lieben einen die Menschen mehr.«

1990

In den Ferien ziehe ich allein durch die Straßen.

Wir schreiben Klausuren. Ich gehe nach fünf Minuten nach vorn, gebe das leere Blatt ab und gehe aus der Tür. Es kommt vor, dass mich ein Lehrer anschreit. Ich höre nicht mehr zu. Meine Eltern kaufen ein Klavier, ich nehme ein paar Stunden, dann lasse ich es. Verabredungen platzen. In den U-Bahnhöfen unter Obdachlosen fühle ich mich wohl. Hier bin ich kein Freak.

Mit meiner Freundin liege ich auf dem Bett und höre Silly. »Schlohweißer Tag, du bist so jung ergraut. Schlohweißer Tag, ich fühl mich hohl in meiner Haut.«

Nachts treiben wir uns in den Wagenburgen im Grenzstreifen herum, gehen manchmal auch in einen der Wohnwagen und rauchen Gras mit Fremden. Wir müssten auf Skins aufpassen. Ich habe keine Angst.

Es ist noch nicht lange her, da habe ich mich wegen ihr gewaltig in Schwierigkeiten gebracht: Sie stand mitten in der Englischstunde vor unserer Klassentür und behauptete, meine Mutter stünde vor der Schule. Die Klasse lachte: »Na, hast du deinen Haustürschlüssel vergessen?« Als wir draußen waren, grinste sie mich an: Eine Wette. Ich wollte meine Freundin nicht verraten und ließ mir schnell eine Ausrede einfallen: Meinem Vater ginge es nicht gut.

Ich wurde nach Hause geschickt und sie fragten, was passiert war. Ich wollte nicht lügen. Vater rannte den Flur auf und ab, fasste sich an den Kopf und wandte sich mit einer Stimme, die an ein Wimmern erinnerte, an Mutter: »Sie wünscht mir den Tod an den Hals, Mutti, sie wünscht sich meinen Tod!«

Ich ging mein Zimmer und schloss die Tür. Doch Mutter riss sie wieder auf. Mit kleinen Pupillen und verzerrtem Gesicht fauchte sie mich an: »Und wenn dem Vati jetzt was passiert, dann bist du Schuld!« Ich fuhr zur Schule zurück.

Dort lässt man mich in Ruhe. Die anderen haben es aufgegeben, durch die Milchglasscheibe zu dringen, die meine Welt von ihrer trennt.

Seit neuestem stehe ich auf dem Schulhof in der Raucherecke. Ich fühle mich allein und völlig fehl am Platz. Wenn ich in den Spiegel schaue, kann ich mich selbst nicht mehr ertragen. Ich erinnere mich an bessere Zeiten. Auf einmal bin ich davon überzeugt: Hätte ich einen Männerhaarschnitt, würden mich meine Eltern in Ruhe lassen. Und wenn ich das jetzt selbst schaffe, bin ich frei. Ich greife nach der Schere.

Verzweifelt wecke ich Mutter in der Nacht. Sie schläft von Vater getrennt auf der Wohnzimmercouch. Ich sehe furchtbar aus. »Warum habe ich das nur getan?« Vater kommt dazu: »Sie weiß nicht, was sie getan hat.« Und: »Siehst du? Sie ist irre.« Er wiederholt es immer wieder. Ich höre nicht auf zu weinen. Vater zieht sich an und holt das Auto. Mutter und ich gehen auf die Straße, steigen ein. Mutter sitzt auf dem Beifahrersitz, ich auf der Rückbank. Wie ein Tier, das zur Schlachtbank geführt wird, höre ich Vater sagen, dass wir jetzt ins »Griesinger« fahren.
Den Namen kenne ich. Ich habe davon gelesen.

›Endstation‹, denke ich, als wir die Einfahrt erreichen. Meine Eltern bleiben dicht an meiner Seite. Wir gehen durch die Eingangstür. Der kahle Flur riecht nach Desinfektionsmittel, von dem mir übel wird. Ein Rollstuhl. Leere Servierwagen aus Edelstahl. Stühle vor einer kahlen Wand. Wir warten schweigend. Ich starre auf den Boden, Vater sitzt links von mir, Mutter rechts. ›Wenn ich jetzt losrenne‹, denke ich, ›behalten sie mich hier.‹

Dann beschließt Mutter: »Wir fahren jetzt. Und gehen erst einmal ein Eis essen.« Es geht auf den Sommer zu, der Himmel ist wolkenlos, die Sonne strahlt. Das Eis kommt in hohen Gläsern mit langen Löffeln. Vater sagt keinen Ton und stochert unter einem Sonnenschirm in seinem Becher herum. Mutter zieht genussvoll den Löffel durch die Lippen und lächelt ins Leere. Ich sehe die Geranien in den Blumenrabatten. Sie müssten rot und grün sein, die Sonne gelb. Ich nehme nur Grautöne wahr. Ich behalte es für mich.

1997

»Ich glaube, wir haben dich immer unterschätzt.«

Vater sieht nachdenklich der Straßenbahn hinterher. »Deine Erziehung hat mich nie interessiert. Bei mir hättest du vielleicht ein paar mehr Freiheiten gehabt, als bei der Mutti. Aber gut.« Kenne ich Mutter überhaupt? Wir setzen uns zusammen, jeden Abend. Ich möchte sie verstehen, eine Verbindung zu ihr aufbauen. Vater wird sich darüber freuen.

Während ich die Abende mit Mutter verbringe, sehe ich, wie sich Vater verändert. An manchen Tagen sitzt er auf dem Sofa und starrt mich an: »Du bist schuld!« »Woran denn, Vati?« »Du bist schuld!« Er spricht davon, dass er in Volkers Augen das Leiden Christi gesehen hätte. Und dann wieder: »Hau ab! Hau ab!«
Mutter sagt, er habe schlecht geträumt.
»Wenn ich Vati sehe, dann fällt mir Kruska ein«, sage ich zu Mutter. Ein erfahrener Psychiater, an den ich mich während meiner Ehe einmal gewandt hatte. »Ach, nicht doch. Doch nicht der Vati!«

In der Zwischenzeit erstelle ich mit Vater Finanzpläne. Er fürchtet, wir würden verarmen. Erst er, dann Mutter, dann die Kinder. »Vati ist in einem ganz tiefen Loch«, sage ich zu Mutter, als sie ihn immer wieder erfolglos zu einem Spaziergang auffordert. Als sie zur Tür herausgeht, legt er sich wie ein Kind auf meinen Schoß. Er zittert und krallt seine Finger in meine Arme.

Endlich entschließt er sich, zu einem Psychiater zu gehen. Einem anderen, den ich nicht kenne. »Der kann mir auch nicht helfen«, sagt Vater, als er mit hochdosiertem Johanniskraut zurückkehrt. »Ich soll zunächst meine Finanzen in Ordnung bringen.« An diesem Abend schenkt er sich seit langer Zeit wieder einen Cognac ein. Während er sich eine Zigarette anzündet, nickt er mir zu.

Er ist ruhiger geworden.

Es ist Mitternacht, als die Polizei klingelt. Sie hat sein Fahrrad dabei, einen fremden Ausweis, die Fahrzeugpapiere. Während mir eine Polizistin eine Spritze an meinem Arm ansetzt, erklärt der andere meinem Freund, wo sich das Schienenstück befindet, auf dem er es getan hat. Wie er es getan hat: Er hatte sich aufrecht auf die Schienen gestellt und dem Triebwagen entgegengeschaut. Gerade erst eine Stunde zuvor. Zwei Flaschen Cognac hatte er dabei, aus jeder der beiden fehlte nur ein Schluck.

Ich rolle mich in den braunen Fernsehsessel im Wohnzimmer, den, in den ich mich als Kind an seine Seite quetschte, die Armlehne bedrohlich knackte und Mutter schimpfte. Die Spritze wirkt. Ich schlafe ein.

Ich besorge Beruhigungsmittel von der Hausärztin. »Mein Vater ist gestorben.« »Das hat er doch selbst getan.« Sie erzählt mir von dem letzten Treffen, in dem er es sich nicht hatte verzeihen können, einen Fehler gemacht zu haben. Die ärztliche Schweigepflicht hatte es ihr verboten, uns zu informieren.
»Wie furchtbar, wie geht es denn der Mutti?« Die ersten Worte der Kondolenzbekundungen scheinen immer gleich zu sein. In der Nacht warte ich auf das vertraute Klappern von Vaters Schlüsseln an der Wohnungstür warte.

Bei meinen Studienkollegen finde ich Ruhe, bei meinen Freunden auch. Ich soll von einem Herzinfarkt sprechen. »Du schädigst sonst Vaters Bild in der Öffentlichkeit.« Meine Freunde trösten mich: Wenigstens hätte er nicht gelitten. Während ich mich dazu entscheide, wenigstens sie nicht länger zu belügen, ist sich Mutter immer sicherer, dass Vater einen Infarkt hatte und deshalb mit dem Fahrrad umgekippt sei. Ausgerechnet auf den Schienen. Als ich dem Grabredner bei der Vorbereitung sage, dass er die Wahrheit wissen müsste, um die richtigen Worte zu wählen, sieht sie mich entsetzt an.

»Warum hast du mir denn nicht gesagt, dass er zu einem Psychiater muss. Ich kenne doch dieses schwarze Loch gar nicht. Gib mir doch bitte den Vati wieder.«

Zu einem Therapeuten will sie nicht: »Der Vati hat keine Hilfe gehabt, dann darf ich auch keine bekommen.« Außerdem wäre es zu schmerzhaft gewesen, was ihr ein Psychologe nach dem Tod von Jörg gesagt hätte. Mehr nicht.
»Dann sprich doch bitte auch mal mit deinem Sohn.« »Mit dem kann ich das doch nicht machen. Der ist schließlich verheiratet.«

Eines Tages meint sie: »Ich bereue jede Minute, die ich mit dir verbracht habe. Dann hätte ich noch Zeit mit Vati gehabt.« Außerdem würde es Rentenpfändungen gar nicht geben. Das hätte ihr die Anwältin gesagt. »Damit hast du ihn in den Tod getrieben! – Nun rede doch mir mir.«

Iron Maiden – volle Lautstärke – keine Geschwindigkeitsbegrenzung auf der Autobahn. Die ersten zweieinhalb Minuten von »Afraid to shoot strangers« erinnern mich an Vaters Herzschlag. Es ist noch nicht lange her, da hatten ihm die Ärzte die Stäbe und Nägel aus dem Bein genommen. Ich stelle mir vor, wie der Körper Knochenzellen gebildet, Nerven und Blutbahnen wieder verbunden hatte. Bevor er am Triebwagen zerschellte. Es kommt mir so respektlos vor.

Vor mir liegt die Prüfung. Und ich will, verdammt noch mal, leben.

1970

Ich maße mir nicht an, auch nur im Ansatz nachempfinden zu können, was in unserer Familie nach Jörgs Tod vor sich gegangen sein muss. Mutter hatte bereits ihr erstes Kind verloren. Astrid kam Anfang 1957, achteinhalb Monate nach der Heirat meiner Eltern, zur Welt. Von ihr wurde so wenig gesprochen, dass ich nach Mutters Tod das Standesamt anschrieb, um überhaupt ein wenig Kenntnis von ihrer Existenz zu erhalten. Ich erfuhr, dass sie nur drei Wochen gelebt hatte und im Krankenhaus Köpenick gestorben war. Mutter hatte lediglich erwähnt, dass Astrid diesem Krankenhaus falsch ernährt worden war. Ein Grab gab es nicht.
1959 wurde mein großer Bruder geboren, ein Jahr später Jörg.

Es herrscht ein unausgesprochenes Gebot des Schweigens.

Ich versuche, mir das Wechselbad aus Hoffnung und Verzweiflung auszumalen, durch das diese Familie ging, während Jörg im Koma lag. Den Moment, indem sie dem Abbruch der lebenserhaltenden Maßnahmen zustimmten. Die Unterschrift. Das Todesurteil für das eigene Kind. Schuld und Überlebensschuld. Schuldverteilung. Wie viel war Frank davon zuteilgeworden? Der vierte Platz am dunklen Esstisch blieb leer. Mit wem hatte Frank gesprochen, als niemand mehr mit ihm das Zimmer teilte?
All das bleibt mir verborgen. Es ist ein Stück Familiengeschichte, aus dem ich ausgeschlossen bin. Ein Band, das drei, nein vier Menschen verbindet. Drei von ihnen liegen im Schatten eines massiven roséfarbenen Marmorgrabsteins: DAHLENBURG.

Auf den Schock folgt Abwehr. Verhandeln mit dem Schicksal. Wut. Ich habe sie viele, viele Jahre lang gespürt. Sie ist ein so viel kraftvolleres Gefühl als Trauer. Sie hilft, wenn man weiterfunktionieren muss. Aber sie braucht auch einen Ort, wo man sie lassen kann. Sonst wird man verrückt. Ich war mit hundertneunzig Sachen über die Autobahn gebrettert, Heavy Metal, die Lautstärke aufgedreht bis zum Anschlag. Ich hatte geschrien, geboxt, getreten. Mir die Zähne zerbissen. Die Schuld blieb. Sie zeigte sich in Träumen, Schmerzen, Gedankenschleifen. Schnitten in die Haut und in gravierenden Fehlentscheidungen.

Erst zwei Jahrzehnte später kam die Trauer, das Weinen, die Erleichterung, der Abschluss und die Neuorientierung. Ich hatte jede Hilfe in Anspruch genommen, die ich greifen konnte.

Mutter hatte sich keine Hilfe geholt. Sie hatte sich selbst bestraft. Und gleichzeitig auch mich. Ich saß neben ihr, als sie sich beim Landeanflug wünschte, das Flugzeug würde abstürzen. Wut.

Doch ich denke, zuvor hatten sie noch lange mit dem Schicksal verhandelt. Wie Mutter, die nach Vaters Tod die Wohnung renovierte – im festen Glauben, sie könne ihn dadurch zurückbringen. Die eine Spinne aus dem Staubsauger rettete, weil sie davon überzeugt war, sie wäre Vaters Reinkarnation. Die Seele ihres Mannes in einem fremden Körper.

2002

»Einmal habe ich gebetet.«

Mutter spricht von meiner Geburt. »‹Bitte, bitte, lieber Gott,‹ habe ich gesagt, ›lass die Kleine durchkommen‹. Dabei sind mir die Tränen in die Nudelsuppe getropft. ›Mein Gott ist die Kleine krank, haben die Ärzte gesagt. Sie haben dich mir weggenommen und mitten in der Nacht ins Rettungskrankenhaus gebracht. ›Es ist besser, wenn sie stirbt‹, sagten sie. ›Die wird ohnehin dumm.‹ Du hast nur gewimmert. Aber ich wollte doch nicht, dass du stirbst. Du hattest keine Geduld, und als die Wehen einsetzten, habe ich dich immer gebeten, dass du doch drin bleibst. ›Bitte bleib doch,« habe ich gesagt, ›bitte, bitte, bitte, bleib.‹ Die Wehenhemmer haben nicht funktioniert.

›Du hast dich ins Leben gekämpft‹, hat der Vati immer gesagt, denn du hast keinen Ton herausgebracht. Deine Lungen waren ja nicht fertig. Du hattest einfach keine Geduld. Aber als du dann endlich schreien konntest, da hast du so gebrüllt, dass du dir den Bauchnabel herausgeschrien hast. Der Vati hat immer gesagt, du bist eine Kämpfernatur.«

Wir sitzen im Wohnzimmer. Gerade haben wir uns die Doppel-DVD von Metallica angesehen. »Was für eine interessante Musik. Ich bin dir ja so dankbar, dass du mich an deinem Leben teilhaben lässt.« Sie schenkt sich ein neues Glas Wein ein.

»Ich weiß noch, wie der Vati ins Zimmer kam. ›Ich habe ihr gerade ein Küsschen gegeben‹ hat er gesagt. Er hat sich gar nicht getraut, weil du doch so klein und zart warst. Der Vati hat dich dann herumgetragen, wenn du geweint hast. Er hat das auch mit deiner Hüfte erkannt. Ich dachte, das wäre schon in Ordnung, aber er hat gesehen, dass deine Pofalte schief war und immer gesagt, da stimmt was nicht. Wenn ich etwas nicht sehen wollte, dann war es auch nicht da. Wir hatten uns auf einen Jungen gefreut. ›Jungs sind was Schönes‹, habe ich immer gesagt. Aber als dann ein Mädchen da war, da war das dann schon auch schön. Der Vati hat gesagt, der Standesbeamte musste erst einmal nachsehen, ob es den Namen auch gibt. Wenn es nach dem Vati gegangen wäre, dann würdest du jetzt Monika heißen«.
»Dann würde ich nicht ständig Briefe erhalten, die an Herrn Dahlenburg adressiert sind.«
»Es gab da so eine Schauspielerin, die hat mir so gut gefallen. Frances Farmer.« »War das nicht die, die man in der Psychiatrie fertiggemacht hat?«
»Ich fand den Namen so schön.

Sag mal«, fragt sie unvermittelt: »Habe ich mich versündigt?«

»Wie kommst du denn jetzt darauf?«
»Dieter hat das gesagt. ›Du musst ja eine unglaublich große Schuld auf dich geladen haben.‹«
»Aber das ist doch Quatsch.«
»Und warum hat dein Gott mir dann meinen Jörgi weggenommen?« Unwillkürlich greife an das kleine Diamantenkreuz an meinem Hals.
›Er hat dir mich gegeben‹ – doch das denke ich nur.

»Und dann hat Jörgi da auf dem Pflaster gelegen. Er hat die Augen immer aufgemacht, aber er hat mich nicht mehr gesehen.«

Mutter ist in einer anderen Welt

2003

»Ich dachte, ich hätte einfach zu viel Tischtennis gespielt.« Mutter weint. »Dann haben sie mir das Röntgenbild gezeigt. Sie haben immer nur gesagt, dass es ihnen so leid tut. Aber ich habe ja auch geraucht.«
»Frances, ich bin völlig verkrebst.« Ihr Gesicht ist weiß.

Mutter bekommt Chemotherapie. Ich verbringe Tage und Nächte am Rechner und studiere medizinische Webseiten. Nach zwei Nächten werfe ich die Studienbibel, die mir Mutter geschenkt hatte, quer durch den Raum. Ihre Augen werden gelb, der Tumor drückt auf den Gallengang.
»Du sagst dem deinem Bruder doch nichts? Das musst du mir versprechen.«

Der Feind liebt den Verrat, aber er verachtet den Verräter. Vater hatte auf dem Bett gesessen und es mir immer wieder eingeschärft. Was mache ich nun mit dem Wunsch einer Sterbenden? Mutter hat eine Prognose von einem halben Jahr. Ich rufe ihn an: »Lass dir irgendetwas einfallen. Ich soll es dir nicht sagen, aber bitte melde dich bei ihr.«

»Es tut mir so leid, dass ich dir mit der Straße so einen Kummer gemacht habe.« Mutter meint die Zeit, in der ich an der Ecke stehen und auf sie warten musste, während meine Freundinnen nach Hause gingen. »Der Vati hat immer gesagt, ich könnte dir das doch nicht antun. Aber ich hatte doch solche Angst.« Jörg – die rote Ampel. »Ich wollte unbedingt noch einmal ein Kind. Vati wollte das nicht. ›Wir freuen uns auf die Enkel‹, hat er immer gesagt. Aber ich habe mich durchgesetzt.“

„Ich dachte, nun muss ich dich durchbringen, bis du achtzehn bist«, erzählt Mutter an einem anderen Tag. »Alles andere war mir egal.« Und dass sie mich nicht habe stillen können. Ich wäre schwer zu beruhigen gewesen. Haut, Wärme und Nähe kenne ich nur von Vater. Er war es, der mich getragen und gehalten hat. Der mir vorsang wenn ich weinte.
»Die Geisterreiter: Da tritt der Teufel in den Kreis und winkt dem einen zu. Der wendet sich verzweifelt ab und sucht beim Himmel Ruh‹. Zu den Sternen will er flüchten, zur Sonne will er flieh’n. Doch alle Sterne werden bleich, der Himmel will verglüh’n. – Das hat mich wirklich lange beunruhigt.«
»Ja, ich dachte auch, dass das vielleicht nicht das Richtige ist. Aber du hast so vergnügt gequietscht, da wollte ich nicht dazwischen gehen.«

»Denkst du denn noch oft an Jörg?«, frage ich.“
»Jeden Tag«, antwortet sie leise.

Wir kochen weiterhin füreinander. Mutter kann immer weniger essen. Ich kaufe ihr Ingwer gegen die Übelkeit. Sie plant ihre Beerdigung. »Nur für den Fall der Fälle,« sagt sie. »Jetzt würde ich schon noch gerne etwas länger hier bleiben.« Für kleine Ausflüge, auch mit ihren Freundinnen reicht es noch. Wir konzentrieren uns auf den Moment.


»Du hast ihm doch nichts gesagt, oder?«, fragt Mutter, als wir Weihnachten feiern. Ich schaue zur Seite. Einen Monat später schenkt sie mir die letzte Glückwunschkarte: Ein kleiner Hund unter einer Laterne vor dunklem Hintergrund. „Herzlichen Glückwunsch zum Geburtstag… Und alles Liebe von Mutti.“ Wenige Wochen später ist sie tot.

2011

Am 13. August 1961 war die Mauer gebaut worden. 28 Jahre, 2 Monate und 27 Tage waren meine Eltern eingesperrt gewesen. Wir hatten Reisen mit dem Finger auf dem Globus unternommen, Traumschiff – die Serie – hatte uns in fremde Welten entführt. »Warum habt ihr keinen Ausreiseantrag gestellt?«, hatte ich meine Eltern gefragt. »Wegen der Kinder«, hatten sie geantwortet.

In den ersten Jahren der DDR war mein Vater noch überzeugt vom Kommunismus gewesen. Er war als einziger seiner Familie im Osten geblieben und hatte die Care-Pakete mit den Kartoffeln empört zurückgeschickt. Er war in die Weltwirtschaftskrise hineingeboren worden, hatte den Zweiten Weltkrieg erlebt und all seine Hoffnung in ein neues, ein anderes, politisches System gelegt. Im Prager Frühling 1968 hatte er dann »Dubtschek, Dubtschek« gerufen. Die Idee eines »Sozialismus mit menschlichem Antlitz« hatte ihn begeistert. Nach ihrem Scheitern war es für eine Ausreise zu spät. Da hatte er bereits zwei kleine Kinder und Mutter hielt loyal an ihren Eltern fest. Später war sie dann vor die Wahl zwischen ihrer Familie im Westen und ihrer Arbeit als Dolmetscherin für die Verhandlungen mit dem »nichtsozialistischen Ausland« gestellt worden. Sie hatte sich für die Familie entschieden, auch wenn sie sie nur selten sah. Seither arbeitete sie Verträge für eine Chemie-Firma aus. Beide waren zahlende Mitglieder in einer Blockpartei – man engagierte sich nicht, man stellte sich nicht quer.

Die Angst vor dem Unbekannten lähmte den Freiheitsdrang, man hatte es sich in der kognitiven Dissonanz bequem gemacht, und träumte nur hin und wieder insgeheim von dem, was hätte gewesen sein können.

»Wenn ich noch mal von vorne anfangen könnte«, hatte ich gesagt. Ich war fest etabliert, so dachte ich. Gebunden an meine Entscheidungen. Ich hatte etwas Vorzeigbares erreicht.

»Du bist gefangen in Konventionen«, hatte Thomas es genannt. Und Dieter hatte ganz unverblümt gefragt, ob ich eine elektronische Fessel um den Hals hätte. »Ich habe mir ein Leben aufgebaut«, antwortete ich, eher trotzig und überzeugt davon, dass ich, nachdem ich einmal A gesagt hatte, bis an mein Lebensende auch bei B bleiben müsse. Kinder, Küche, Kirche – so modern ich mich auch gab, so fünfziger Jahre waren meine Vorstellungen gewesen.

In meiner Welt waren Frauen verpflichtet, einem Ideal zu entsprechen, von dem ich glaubte, das es die Gesellschaft diktierte. Es speiste sich aus einer Mischung aus Schwarzwald-Klinik und Schwartau-Werbung: Die Grundpfeiler meiner Erziehung hatten aus dem nachmittäglichen Fernsehprogramm und der Nachahmung meiner sozial isolierten, etwas betagteren Eltern bestanden. Ich hatte auf ein Haus, einen Garten, ungiftige Pflanzen, eine durchschnittliche Karriere, Kinder und eventuell auch einen Hund gesetzt. Ich hatte es mir in meiner kognitiven Dissonanz bequem gemacht. Bis mir in einem katalanischen Restaurant alles um die Ohren flog.

»Wenn ich könnte, wie ich wollte, dann würde ich noch einmal etwas ganz anderes machen«, hatte ich gesagt. »Und wenn du es willst, warum machst du es dann nicht?«, hatte meine Kollegin geantwortet und ich hatte sie wie vom Donner gerührt angestarrt.
›Weil ich so viele Aufträge auf dem Tisch habe‹, hatte ich gedacht. Und es ernst gemeint. Man erwartete etwas von mir. Ich funktionierte perfekt. Ein Match.

Das Haus, der akribisch durchgeplante Garten mit kindgerechtem Kletterbaum, die Großfamilie und der Zwergpudel – all das hatte sich als Illusion erwiesen. Geblieben waren eine lieblos eingerichtete Wohnung mit Mülltonnengestank und ein Kleinwagen.

Genau fünfzig Jahre nach dem Mauerbau hatte ich Reiseprospekte und unzählige Internetartikel auf Abenteurer-Portalen studiert, war gegen Tod und Teufel geimpft. Der Rucksack stand in der Ecke, die Freiheit vor der Tür.

Und seit Wochen schmerzt mein Kopf wie die Hölle. Kein Arzt kann etwas finden. Ich schlucke Antibiotika, gehe ins MRT, lasse mir Spritzen verpassen, sogar ein EEG lasse ich machen: Tausend Diagnosen hatte man schon gestellt. Doch gegen das Gefühl, man würde mir ein rostiges Messer genau senkrecht durch die Schädeldecke bohren, sind alle Ärzte machtlos.

Ich verkaufe das Auto an meinen Ex-Freund und folge ihm auf die Straße. Er schlägt die Tür meines kleinen VW Polo zu, startet den Motor und verlässt die Parkbucht vor dem Gerichtsgebäude. Noch lange schaue ich ihm hinterher, sehe ihn stoppen, abbiegen und an der nächsten Ampel warten. Es wirkt noch immer so vertraut. »Da fährt mein Mann«, denke ich, bevor er im Feierabendverkehr untergeht. Dabei hat er längst eine neue Freundin.

Ich bereite die Wohnung für die Untervermietung vor und trenne mich dabei von einem Großteil meiner Möbel – und meiner Vergangenheit. Ich stelle sie in den Hausflur, darüber einen Zettel »zu verschenken« und etabliere bei der Gelegenheit, ohne es zu beabsichtigen, eine Tradition in unserem Altbaukomplex. Innerhalb weniger Stunden ist der Hausflur leer und mir ist übel. Mein Leben verschwindet vor meinen Augen. Oder vielleicht sollte ich besser sagen: Das, was davon überhaupt noch geblieben war.

Auf der Straße treffe ich Djouvilda. Sie kommt aus Guinea-Bissau. Wir haben uns im Sommer oft in einer kleinen Bar, direkt vor meinem Hauseingang getroffen. Das bizarre Lokal besteht aus einem umgebauten Toilettenhäuschen, in das fünf bunt zusammengewürfelte Tische und mehrere Stühle gestellt worden waren, ein paar Schränke und Regale, die genauso wenig zueinander passten, und das dann mit Spiegeln und Bildern aus Tunesien dekoriert wurde. Charly lässt sich beim Kochen gern zuschauen und schenkt danach den Rotwein seinen Gästen und sich selbst im Wechsel ein. Es ist der Multi-Kulti-Treffpunkt für Hippies und schräge Vögel, gescheiterte Existenzen und all jene, denen die Fassade nicht so wichtig ist.

»Willst du Weihnachten mit uns feiern – eine Feier auf afrikanisch?«, fragt Djouvilda. Das sind die Worte, die ich in diesem Moment so dringend brauche.

2012

Die Geräusche und Klänge Afrikas prägen sich ein: Das quietschende Schultor am Morgen, dann gespannte Stille, bis aus irgendeiner der offenen Türen eine aufgeregte Stimme klingt: “ Auntie Franziska is coming…” Dann anschwellender Lärm, von allen Seiten stürzen Kinder auf mich zu und reißen mich fast von den Flip Flops: Die ersten Streicheleinheiten des Tages werden abgeholt und die Rangelei beginnt: Wer trägt die Wasserflasche, wessen Süßigkeiten probiere ich zuerst aus, wer bekommt eine Hand zu fassen, einen Arm, den Gürtel, ein Knie. Im Schneckentempo geht es dann, eskortiert von einem Dutzend Kids durch eine der offenen Türen, und das heißt dann: In dieser Klasse bist Du heute.

Die Unique Rock School ist eine kleine Privatschule. Ins Leben gerufen von einer ehemaligen Lehrerin, die an einer staatlichen Schule unterrichtete und es nicht mehr mit ansehen konnte, wie dort bis zu 70 Kinder in einer klasse abgefertigt werden. In Ghana besteht Schulpflicht, der Besuch der staatlichen Schulen ist kostenlos. Der Beruf des Lehrers ist jedoch denkbar schlecht angesehen und noch schlechter bezahlt.
Zwei Lehrer habe ich in der letzten Zeit an ihren jeweiligen Wohnorten besucht. Sie leben in Hütten, die aus einem halbverfallenen, nicht fertiggestellten und notdürftig mit Wellblech abgedeckten Rohbau bestehen. Bis zu drei Personen leben auf zwanzig Quadratmeter. Die Küche besteht aus einem Gaskocher und mehreren Schüsseln auf einer schnell zusammengemauerten Terrasse. Eine Toilette oder gar ein Bad gibt es nicht. Farbenfroh werden die Zimmer durch die Dinge, die gegen die Wand gestapelt werden, ergänzt durch ein paar Poster. Richtig kritisch wird es in der Regenzeit. Von April bis Oktober regnet es durch Dach und Fenster. Man rettet sich mit Plastikplanen. Dann kommt kein Regen mehr durch, aber auch kein Licht.

Eine der Lehrerinnen hat einen Malaria-Schub. “Versprich mir, dass du zum Arzt gehst, wenn die Medikamente nicht helfen, ja?” Sie schaut mich nur an: “Ich hab keine Krankenversicherung.” Wie so viele. Letzte Woche erst kondolierten wir bei dem Vater einer Schülerin. Seine Frau starb bei der Geburt seines dritten Kindes. Sie lag drei Tagen in den Wehen, einen Kaiserschnitt gab es nicht. Der Arzt hatte alles in die Hände Gottes gelegt.

In die Unique Rock School gehen 60 Kinder im Alter von zwei bis elf Jahren. Kindergarten, Vorschule und Grundschule in einem. Die Klassenstärke variiert zwischen fünf und 15 Kids. Gelegentlich bleibt mal ein Kind weg, weil die Eltern die Schulgebühren nicht bezahlen, jeder Lehrer ist für alle Fächer seiner Klasse zuständig, einige unterrichten zwei Klassen gleichzeitig: Die einen lösen Matheaufgaben während die anderen lesen. So richtig abgegrenzt ist das hier ohnehin alles nicht. Die Türen stehen offen, sonst wäre es unter dem Wellblechdach nicht auszuhalten. Viel findet spontan im Vorgarten statt, und die Kids schauen gerne in anderen Räumen einmal nach, was da so los ist. Jeder kümmert sich um jeden. Die Antwort auf “Wieviel ist fünf plus zwölf” muss dann eben so lange warten, bis ein Streit im Nebenraum geschlichtet oder eine Windel gewechselt worden ist.

Ich springe zwischen den Aufgaben: Singen am Morgen, singen in der Pause, singen am Nachmittag… Und dann schauen, was sich so anbietet: Sommersprossen eignen sich hervorragend, um mit den Kleineren das Zählen zu üben. Jungs und Mädchen jeden Alters lieben es, wenn ich ihnen Grimms Märchen vorlese, am liebsten Schneewittchen. Daraus kann man dann so einiges entwickeln: Das kleine Einmaleins mit der Sieben, was heißt Tellerchen auf Französisch, welche Früchte gibt es außer Äpfeln noch, und warum wachsen manche davon in Ghana und manche in Deutschland und nicht umgekehrt? Dazwischen will dann immer mal jemand von den ganz kleinen auf den Arm, auf den Schoss, oder auf den Rücken. Vom Froschkönig kann man wunderbar zu einer Sport-Stunde mit Hüpfen und Werfen überleiten. Meine Lösung, wenn die Kids zu wild werden.

Meine Art, mit den Kindern umzugehen, sorgt für Erstaunen. “Sieh zu, dass sie dich fürchten, schrei sie an und wenn alles nicht mehr hilft, nimm den Stock.” Lehrer wie Eltern beziehen sich dabei auf die Bibel: Wer sein Kind liebt, der züchtigt es. Gehorsam geht über alles. Eine Antwort ist dann richtig, wenn sie die vorgegebene Formulierung wiedergibt. Schläge und Drohungen begleiten die Kinder von Anfang an. Ich sehe viele von ihnen, die vor Angst nicht mehr in der Lage sind, auf einfache Fragen zu antworten. Doch geht der Lehrer aus der Klasse, sind sie nicht mehr zu bändigen.

Da ist Paula, die gegen alles rebelliert, der niemand so recht was zutraut, die aber zu Hochtouren aufläuft, wenn ich sie bitte, einen Hund, eine Katze, einen Baum, zu malen: “Was noch, was noch, was noch???”, fragt sie immer wieder. Michael, der kaum hörbar flüstert, und dabei das Wissen aufsaugt, wie ein Schwamm. Theodor, der sich rabiat prügelt, aber ganz still und andächtig wird, wenn ich Märchen vorlese.

Liebe

In Dome, einem Vorort von Accra, in dem ich inzwischen lebe, sind die Auswirkungen des Harmattan, der hiesigen Trockenzeit, noch wesentlich deutlicher zu spüren, als in der Hauptstadt. Es gibt kein fließendes Wasser, und regelmäßig wird gebietsweise der Strom abgestellt. Man lernt jedoch sehr schnell, dass es möglich ist, mit einem Eimer Wasser die Haare, sich selbst und die Wäsche leidlich sauber zu bekommen und die Toilette zu spülen. Die Reihenfolge ist ausschlaggebend.

Die Tatsache, dass ich in meiner neuen Umgebung weit und breit die einzige Freiwillige bin, machte die Eingewöhnung vielleicht etwas rauher als erwartet, zwingt mich allerdings auch dazu, mich mit Haut und Haaren einzulassen. Und da die Ghanesen ihrerseits einfach nur hinreißend liebenswert und offen sind, war das wohl auch das beste, was mir passieren konnte. Fremde wie Bekannte sorgen sich darum, dass ich auch genug trinke, den Weg finde, als TÜV-verzärtelte Deutsche nicht bei 80 km/h aus dem Tro-Tro falle, und mich generell bei ihnen wie zu Hause – das heißt hier: als Teil ihrer Familie fühle. Kaum ein Tag vergeht ohne eine Einladung, und das zum Teil wirklich wenige, was sie besitzen, wird von Herzen geteilt. Familie hat als soziales Netz einen riesengroßen Stellenwert. Häufig übernehmen Großeltern, Cousins oder auch Bekannte die Erziehung, während die Eltern im Ausland arbeiten. Mit Methoden, bei denen mir oft die Luft wegbleibt. Doch wer sein Kind liebt, der züchtigt es, so heißt es hier.

„I want to marry you.“ – So beginnen hier stets die Flirts. Das soll den Mädchen zeigen, dass Mann es auch ernst meint, bevor er sie zum Abendessen einladen darf. Und da die Ehe eine so große Bedeutung hat, sind allein schon die Verlobungsfeiern Anlass für ein rauschendes Fest.
Die Familien des künftigen Brautpaares werden einander vorgestellt. Dann wird das Eheversprechen in Anwesenheit eines Priesters gegeben, der die Gelegenheit nutzt, sowohl dem Brautpaar als auch deren Familien wie anwesenden Freunden und Bekannten jede Menge Hinweise mit auf den Weg zu geben. In jeder Hinsicht. Bei der Verlobungsfeier, an der ich teilhabe, macht er sich mächtig Luft darüber, dass die Zeremonie erst zweieinhalb Stunden später starten kann. Erst dann treffen die letzten Gäste ein. Mich überrascht, dass ihn das so ärgert. Denn das ist der Umgang mit Zeit, wie ich ihn hier nicht anders kennengelernt habe.

Glaube

Wie immer ist die Festlichkeit eingebettet in einen Gottesdienst. Und die stellen ein gerne mal sechs bis achtstündiges emotionales Feuerwerk dar. Gesang, Tanz, Heilungen und persönliche Glaubensbekenntnisse sind zentrales Element. Doch auch außerhalb der Kirche ist der Glaube allgegenwärtig. So kann man erst im „Jesus Is King“ – Minimarkt sein Wasser kaufen um sich danach im „By His Grace“ – Beautysalon verwöhnen zu lassen.

Doch da gibt es noch einen anderen Glauben – einen stillen, zurückhaltenden, der einfach anpackt und Leben verändert. Das Chosen Rehab Center in Achimota wurde von Apostel Washington und seiner Frau gegründet. Es besteht aus einem kargen Grundstück mit einigen Holzbaracken, einfachen Tischen, Stühlen und Matrazen im Vorhof, Küche und Waschküche im hinteren Teil. Ein kleiner Transporter auf der Straße, vor hohen Mauern. Apostel Washington und seine Helfer besuchen mehrmals in der Woche die Ghettos von Accra. Mit Predigten, Gesprächen und manchmal auch Schmerzmitteln gewinnen sie die Aufmerksamkeit der Insassen. Fassen sie Vertrauen, werden sie direkt mit dem Transporter mitgenommen. Sie lassen alles zurück, dürfen während der kommenden drei Monate das Gelände nur unter Aufsicht verlassen, und werden vor Ort mit Kleidung und Essen versorgt.

Hoffnung

Das Chosen Rehab Center lebt von Spenden. Nach ein bis zwei harten Wochen kaltem Entzug, während dem die Kranken auch von starken Security-Guys davon abgehalten werden, wieder ins Ghetto zu flüchten, haben sie das schlimmste überstanden. Wir können ihnen nur mit Gesprächen und Bibellesungen unter die Arme greifen, und doch kann man dabei zusehen, wie sie wieder zu Kräften kommen. Einen Monat später gehen sie mit uns auf die Märkte. Dann in die Ghettos. Und wenn sie Glück haben, finden sie auch einen neuen Job.

In dichtem Marihuana- und Kokain-Dunst verteilen wir Malaria-Medikamente. Ich hatte bei unserer ersten Ankunft im Ghetto damit gerechnet, auf im besten Falle, wohlwollende Gleichgültigkeit zu treffen. Doch schon bald schildert uns eine Frau, Suzanna, wie sie verzweifelt versucht, diesem Leben zu entkommen, und doch immer wieder bleibt.

„Auntie Franziska“, fragen mich die Kinder in der Unique Rock School, „lieben dich die Leute im Rehab-Center genauso wie wir?“

Einige Tage später sehe ich auf einer der Matratzen Suzanna liegen. Als sie mich erkennt, richtet sie sich schwach auf. Ich reiche ihr die Hand und sie beginnt zu reden.

„Ich bin im Himmel“, sagt sie immer wieder. „Das ist der Himmel. Ich bin hier, weil du mir mit Respekt begegnet bist. Gott hat mir eine neue Chance gegeben.“

Ein paar Tage später sehe ich sie tanzen.

2015

Wütend funkelt mich Ismael an.
Dann dreht er sich um und zeigte den anderen Jungen im Raum, wer hier heute der Boss ist. Gerade war ich durch die Tür des »Comedor« – einer Suppenküche – in einem der größten Elendsviertel von Buenos Aires getreten. Ein kleines, unfertiges Haus mit Tischen und Stühlen und einer großen Küche im Erdgeschoss. Jeden Sonnabend versammeln sich hier zwischen zwölf und zwanzig Kinder, um gemeinsam zu spielen und zu frühstücken. Die Mütter sind glücklich, wenn sie morgens um zehn Uhr vor der schweren Eisentür stehen.

Wir holen Papier und Buntstifte aus den Schränken, während sich der Raum mit Kindern füllt. »Habt ihr eure Hausaufgaben dabei?« Ismael wird nicht von seinen Eltern gebracht. Ich sah ihn schon von Weitem, wenn er mit gesenktem Kopf durch die staubige Straße auf uns zukam. Er freut sich nicht, knurrt kurz und setzt sich an die äußerste Ecke des Tisches. Was los ist, frage ich ihn, doch er vergräbt seinen Kopf zwischen den Unterarmen. Kein Reden, kein Streicheln hilft.

»Du bist ja nur Peruaner«, höre ich ein kleines Mädchen sagen. Die schwarzen Augen funkelten.
»Ich bin Argentinier.«
»Du lügst ja, deine Eltern kommen aus Peru!«
»Aber ich bin hier geboren!«
»Du bist Peruaner.«

Die argentinische Verfassung verspricht Gerechtigkeit, Freiheit und Wohlstand für alle, »… die auf argentinischem Boden leben wollen.« Viele halten sich mit einfachen Jobs über Wasser. Oder mit einer kleinen Unterstützung vom Staat. Doch ganz offensichtlich gibt es selbst unter den Gestrandeten noch immer solche, die – frei nach Orwell – die besseren Gestrandeten sind.

Ismael spricht nicht mit mir. Aber er geht auch nicht, und so setze ich mich von nun an jeden Morgen neben ihn. Ich sage nichts, bin einfach nur da. Manchmal fünf Minuten, manchmal fünfzehn. Irgendwann beginnt der Kleine zu sprechen. Ob der FC Bayern München denn auch mein Lieblingsverein sei? Sein Herz schlägt für La Boca, einen der zwei rivalisierenden Fußballclubs von Buenos Aires.

In Ismael steckt ein leidenschaftlicher Torwart. Er malt tolle Bilder, auch für mich. Wir machen Fotos, er lacht. Doch wenn die Mütter der anderen Kinder wieder vor der Tür stehen, wird er unruhig. Dann bricht er Streit vom Zaun, wird aggressiv und laut. Später zieht er alleine von dannen.

An einem Samstag gehe ich nicht zum Unterricht. Ismael würdigt mich am folgenden Wochenende keines Blickes. Elf Uhr. Nun können die Kinder von den Schulaufgaben entspannen und zum Spielen übergehen. »Tutti-Frutti« zum Beispiel, die argentinische Version von Stadt-Land-Fluss, bei der sich Trauben kleiner Kinder um mich bilden, weil sie Mitleid mit mir haben.

Wir basteln Musikinstrumente aus Plastikflaschen und Sojabohnen. Oder wir zeichnen eine Landkarte, schreiben die Hauptstädte der Regionen hinein und malen die bedeutendsten Sehenswürdigkeiten Argentiniens dazu.

Ismael spricht noch immer keinen Ton mit mir. Ich gehe in die Küche, um Mate aufzubrühen, ein einfaches Getränk, das vor allem Kinder gerne mögen. Gerade will ich die Vanille-Kekse auf die Teller legen, da spürte ich eine kleine Hand in meiner.

»Wo warst du letzten Sonnabend gewesen?«, fragte Ismael ganz leise, als es niemand sieht.

Wir drücken uns sehr lange.

2016

Wieder einmal wickele ich mein Leben ab: Meine Bücher gehen komplett an einen Buchhändler, Fotoalben, Meyers Lexika aus den zwanziger Jahren und alles, was sonst zu unserer Familie gehörte, an meinen Bruder: Die Auskunft vom Wehrmachtsarchiv und der blutverschmierte Soldatenausweis von Vater sind dabei. Die Geschichte seiner Fronterfahrungen, die er in den fünfziger Jahren geschrieben hatte. Kam sie in den Albträumen meiner Brüder ebenfalls vor?

Und auch den Schulranzen und die Hefte von Jörg überlasse ich ihm. Mutter hatte sie ihr Leben lang aufbewahrt, und auch ich bringe es nicht über das Herz, sie wegzuwerfen. Natürlich hatte ich sie angesehen: Mein unerreichbares Ideal war ein ganz normaler, kleiner Junge gewesen, der lebte, lernte und Fehler machte. »Jörg war einfach ein Bruder gewesen. Der war immer da«, hatte er vor Jahren gesagt. Und damit das Gespräch über ihn für immer beendet.

Jörg war immer dagewesen. Jörg ist niemals gegangen. Stattdessen bin ich es. Und ich hoffe, es wird gut.

Doch ich bekomme keine Wohnung, ziehe von Hostel zu Hostel, durch Wohngemeinschaften und Ferienunterkünfte, meine Reise endet in einer der rauesten Gegenden von Buenos Aires.

In der Wohnung neben mir wohnt eine Akkordeonistin, wir lassen die Türen offen und machen Musik. Die Türklingel funktioniert nicht. Ich bitte meine Freundin, mir eine Nachricht zu schicken, wenn sie vor dem Haus steht. Während sie bei mir eingeht, wird meiner Freundin das Handy gestohlen. Sie hatte etwas Metallenes an der Stirn gespürt und losgelassen. Einige Jahre später wird mir meine Nachbarin von einer Schießerei vor unserer Tür erzählen.

Nachts sitze ich auf der Dachterrasse und esse Pizza zum Mitnehmen von der Billigkette an der Straßenecke. Während ich darauf warte, dass sie aus dem Ofen genommen wird, beobachte ich Jugendliche, die die Mülltonnen nach Resten durchwühlen: Pizzaränder, die anderen nicht geschmeckt hatten. Sie essen sie noch vor Ort.

Ich bin gestrandet, hab den Halt verloren. Verletze mich am Arm, bis ich mich wieder spüre. Es ist der gleiche Anblick wie damals, als das kochende Wasser über meinen Oberkörper gelaufen war. Doch diesmal gehe ich nicht zum Arzt. Und die Narben bleiben.

Die Wunden sind noch nicht verheilt, als ich auf Diego treffe. Er bringt mich zum Lachen. Er gibt mir Sicherheit. Diego hat Familie und spricht von einer weiteren mit mir. »Vielleicht solltest du schon mal mit Folsäure beginnen?« Ich bin zweiundvierzig Jahre alt. Ich träume von Kindern. Es ist fünf vor zwölf.

Diego ist mit Leib und Seele Vater. Ein geschiedener, der sich schuldig fühlt. Es bricht mir das Herz.

Ich bin es leid, aus Koffern zu leben. Ich bin einsam, heimatlos, verwirrt und bedürftig. Diego reicht mir die Hand und zeigt mir eine Zukunft, die uns gehören könnte. Es ist alles viel zu früh, es geht viel zu schnell. Doch ich möchte endlich ankommen. Familie!

»Deine Vergangenheit ist mir egal,« sagt er zu mir und es macht mich glücklich: Ich darf loslassen. Ich bin gesehen.

Diego hat Pläne, die vernünftig klingen. Ein kleines Unternehmen, eine Investition ohne Risiko. Ich stelle das Kapital, er arbeitet. Ein sicheres Standbein. Doch was ist, wenn der Markt wegbricht? Sich die Gesetze ändern oder es sich die Politik einfach anders überlegt? In Argentinien keine Seltenheit.

»Lass uns noch warten«, sage ich.

»Bist du dir denn sicher, dass du mich wirklich liebst?«, fragt er zurück. Und wieder spricht er von seiner Vaterschuld. Schuld, die ihn am Leben verzweifeln ließe. In seiner Tochter erkenne ich mich selbst. Die Narbe auf meinem Arm wird nie mehr verschwinden. Kein Risiko, verspricht Diego wieder und wieder. Eine Familie. Unabhängigkeit.

Er weint. Ich besorge das Geld.

2021

Kaltes Licht scheint durch die Fenster, um mich herum nur Dunkelheit. Bücher und ein wenig Porzellangeschirr werfen ihre Schatten. Ich vermisse eine Berührung, ein Atmen neben mir. Geräusche, die von Leben zeugen. In der Küche schaltet sich die Gastherme an. Risse im Putz, die in der Dunkelheit nur zu erahnen sind.

Ein fremdes Bett, eine fremde Gegend, tausende Kilometer von dem entfernt, was ich einst für meine Heimat hielt. Ein leises Bellen in der Ferne. Was tue ich hier?

Ich bin siebenundvierzig Jahre alt. Und außer Schulden gibt es nichts, was mir noch geblieben ist. Keine Familie, keine Freunde, keine Arbeit, keine Aufgabe. Würde ich hier sterben, es würde niemand auch nur bemerken.

»Du warst immer die kleine, aufstrebende Schwester“, hatte mein Bruder gesagt. Nun habe ich auf der ganzen Linie versagt. Es ist ein Augenblick der Klarheit, in dem ich mir nichts mehr vormachen kann: Das Spiel ist aus.

Mein Herz schlägt bis zum Hals, mir ist schlecht, ich kann nicht mehr atmen. Es fühlt sich an, wie Sterben. Und nichts würde ich in diesem Moment lieber tun.

Ich ziehe die Knie an den Körper, wälze mich im Bett, gehe auf die Knie: Meine Haut brennt. Ich vergrabe den Kopf im Kissen. Es ist vorbei! Alles, was ich spüre, ist das rasende Herz und der Druck auf der Brust, der mir den Atem nimmt. Nein, das ist kein böser Traum. Das ist real! Das ist mein Leben. Wie konnte ich mir so lange etwas vormachen? »Schau an, was aus dir geworden ist.« In was für einer Traumwelt hatte ich gelebt?

Das hier ist die Wahrheit. Eine andere gibt es nicht. Ich will sterben, aber auch das kann ich nicht.

»Und ob ich schon wandelte im tiefsten Tal, fürchte ich kein Unheil«. Die Worte sind klar und deutlich. Ich kann die Richtung ausmachen, aus der sie kommen. Tröstlich, auf eine seltsame Weise bekannt. Und doch so fremd. Ich nehme sie noch einmal wahr. Kommen sie von außen, sind sie in mir?

»Und ob ich schon wandelte im tiefsten Tal, fürchte ich kein Unheil.« Was ist das? Ich will diese Worte umarmen, mich an sie klammern. Sie klingen in mir. Unbekannt und doch so vertraut. Warm und weich. Ich werde ruhig. Der Sturm ist vorbei. In der Küche höre ich noch immer das Rauschen der Therme. Ich stehe auf. Gehe durch die Wohnung. Kehre zurück ins Bett und schlafe ein.

Gott?!

Kurz darauf gehe ich wieder zum Strand. Es ist Mai – Herbst in Argentinien. Einen langen Sandweg entlang, vorbei an Straßenhunden, kleinen Häusern, einem nun verwaisten Zeltplatz. Gigantischen Bäumen, aus denen im Sommer das so typische Geschrei der Sittiche weithin hörbar ist. Das letzte Wegstück besteht aus so tiefem Sand, dass ein Auto stecken bleiben könnte. Aufgewühlt von Pferdehufen und durchzogen von den Spuren der Kutschen, mit denen in der Nacht bergeweise Erde vom Strand in das Armenviertel transportiert wird. Mit seinem Salzgehalt eignet sie sich schlecht zum Bauen von Häusern, und doch wird sie verkauft. Für viele hier die einzige Lebensgrundlage.

Die Flut spült die Löcher leidlich wieder zu.
Das Meer ist schon zu hören, doch zunächst muss ein schmaler Spalt in der Düne durchquert werden. Und dann – in einem einzigen Moment – wird der Himmel weit. Unter ihm, bis zum Horizont, der Atlantik: Niemals endende, blaugraue Wellen, die mit weißen Schaumkronen an der Küste brechen.

Freiheit. Schönheit. Unendliche Kraft.
Hier habe ich mich im Sommer in die Wellen gestürzt, erst mit Freunden, dann allein. Der Strand war einsamer geworden, das Wasser kälter, schließlich bestand meine einzige Gesellschaft aus einem Hund, der sich neben meine Kleidung setzte und auf mich wartete. Kam ich aus den Wellen, sprang er mich an, ließ sich streicheln und lief dann wieder zurück in den Ort.

Der Strand ist menschenleer, kilometerweit. Einige Wolken in der Ferne. Und auf einmal spreche ich laut in das Rauschen der Wellen: »Okay Gott, wenn es dich gibt, dann gib mir bitte ein Zeichen.«

Ich habe das Gefühl, ich müsste mich umdrehen. Blicke in den Himmel: Weit über das Meer erstreckt sich ein Regenbogen. Und ich weiß in diesem Moment, dass das kein Zufall ist.

»Weißt du denn, was der Regenbogen bedeutet?«, fragt Montse. Ich hatte mein Handy nicht dabei, muss erst nach Hause und schreibe ihr schnell eine Nachricht. »Ich habe keine Ahnung, Montse.« All die Jahre in der Kirche haben mich einige Regeln gelehrt, doch von Gott, das merke ich jetzt, weiß ich im Grunde gar nichts.
»Das ist sein Bund mit den Menschen.«

Ich habe keinen Zweifel daran, dass der Regenbogen nicht zufällig erschienen war. Es war zu unwahrscheinlich, zu direkt, zu spontan. Zu seltsam all das, was in den letzten Stunden geschehen war. Und es stand in keinem Zusammenhang zu meinen Überzeugungen und Erwartungen – ich konnte es mir weder eingebildet noch herbeigewünscht haben.

Dann geht alles ganz schnell: Innerhalb weniger Tage fahre ich zurück nach Buenos Aires, verschenke das Wenige, was ich noch habe und mache mich auf den Weg. Und ich erlebe Zufälle über Zufälle, Situationen, in denen ich getragen und geschützt werde. Es ist so verrückt – und fühlt sich einfach richtig an.

Kämpfe

Doch der Sommer geht vorüber und die Einsamkeit kriecht mir in die Knochen. Ich besitze noch Schlaftabletten, Whisky gibt es im nahegelegenen Kiosk, so komme ich durch die Nächte. Tagsüber bleiben meine Fensterläden zu. Ich verkrieche mich auf zwanzig Quadratmetern. Fühle mich verlassen, wie nie. Von den Menschen und von Gott.

In Foren frage ich nach Gottes Haltung zur Depression. Und wieder gibt es Liebe über Liebe. Doch es gibt auch andere Stimmen. Ich frage und frage, schreibe mir in den Nächten alles von der Seele. Oft auch schon nach einigen Gläsern, vieles lösche ich am Morgen.

Ich gehe zum Strand. Diese Weite, diese Schönheit. »Gott, und du sollst eine ewige Hölle geschaffen haben. Für fühlende Wesen? Einfach so? Weil sie verzweifelt waren? Weil sie sich im Dickicht deiner Vorschriften verirrt haben? Du gibst ihnen dieses Leben und lässt sie stolpern, um sie foltern zu können?

Es ist nicht richtig. Es passt nicht zusammen. Sie sprechen von Gerechtigkeit, von Liebe. Aber das hier hat alles nichts mit Liebe zu tun.

Die Sonne versinkt hinter den Dünen. Möwen gleiten im Wind. Das Sediment des Rio de la Plata mischt sich mit dem Wasser des Atlantik. Es ist eher braun als blau, gelegentlich schimmert es auch ein wenig grün. Ich schreie gegen die Wellen: »Gott, finde ich dich in der Bibel? Oder muss ich dich woanders suchen?«

Doch auch das soll wieder Sünde sein, erfahre ich in den Foren: Verlass dich auf den Herrn von ganzem Herzen und verlass dich nicht auf deinen Verstand; sondern gedenke an ihn in allen deinen Wegen, so wird er dich recht führen. Schwarz ist weiß und weiß ist schwarz. Denkverbote. Doppelte Botschaften. So will ich das nicht. So kann ich das nicht. Es treibt mich in den Wahnsinn.

Vor gar nicht allzu langer Zeit hatte ich hier am Strand noch die Arme ausgebreitet und mit aller Kraft gerufen: »Gott, übernimm du!« Jetzt schreie ich wieder, aus tiefstem Herzen: »Gott, ich will nicht mehr an dich glauben!«

Stephan

»In der Bibel ist auch nicht alles Gold, was glänzt: Abraham war ein Feigling und Mogler; Mose war ein Mörder; David ein »Warlord«; Elija hat einen Selbstmordversuch begangen. Paulus ruft uns dazu auf, alles zu prüfen, das Gute zu behalten und das Schlechte zu verwerfen. Ja, und genau das sollten wir eben auch tun.«

Stephan erzählt von seiner Gemeinde, seiner Familie mit Geschwistern und Pflegegeschwistern. Er kennt das Verlassenwerden, die viel zu frühe Verantwortung, die Gewalt.

»Warum gibt Gott Menschen eigentlich so ein krankes Leben, und wenn sie es nicht mehr aushalten, schickt er sie in die Hölle? Und warum überhaupt eine Hölle?«, sind die ersten Fragen, die ich Stephan stelle. Sehr zögerlich kommt seine Antwort, zu oft hat er erlebt, dass seine Gesprächspartner wütend wurden: »Also ich glaube das nicht.«

Und während er es mir erklärt, ist es, als würde jemand ein Fenster aufmachen und frische Luft hereinlassen.

»Jetzt wird es logisch, Stephan. Jetzt macht es endlich Sinn.«

Doch die Vergangenheit steckt mir in den Zellen. Schwarze Pädagogik und eineinhalb Jahrtausende Kirchengeschichte. Augustinus, Alighieri und Thomas von Aquin haben ihre Spuren hinterlassen. ›Da tritt der Teufel in den Kreis und winkt dem einen zu…‹. ›Verlass dich auf den Herrn und nicht auf deinen Verstand.‹

Denkverbote, Abhängigkeit.

»So ein Quatsch«, sagt Stephan. »Du sollst den Herrn, deinen Gott lieben, aus deinem ganzen Herzen, mit deiner ganzen Seele und deinem ganzen Verstand. Wozu meinst du, hat Gott ihn uns gegeben?«

Und Millionen Menschen sehen es anders?

»Vielleicht haben die Menschen einfach Angst, umsonst Angst gehabt zu haben? Oder nein, es geht noch weiter: Sie denken, wenn sie keine Angst mehr haben, genau dann geschieht das Schreckliche.«

‚Immer wenn ich glücklich bin, sitzt ein Dämon in der Ecke und zerstört es mir‹, hatte Mutter gesagt.

Stephan verbindet die Theologie mit Mathematik, Physik, Chemie und Geschichte. Aus den Chats werden Telefonate, irgendwann schalten wir die Kameras ein. Teilen unseren Alltag über 12.000 Kilometer hinweg. Stephan hat gerade seine Frau verloren – ich den Boden unter den Füßen.

Schmerz

Ich erinnere mich an den Schmerz, den meine Mutter nach dem Suizid meines Vaters durchlebte: Jeden Morgen wachte sie auf und das Bett neben ihr war leer. Sie war glücklich gewesen, ihn neben sich zu spüren. Ihn atmen zu hören, seine Wärme zu fühlen. Noch am Tag zuvor hatte sie den Tisch gedeckt, um mit ihm zu feiern, dass sie nun vierzig Jahre gemeinsam aufwachten. Und dann war er gegangen, von einem Moment auf den anderen. Ohne Erklärung. Alles, was geblieben war, war ein Zettel gewesen: „Trauert nicht um mich. Ich bin es nicht wert, dass ihr an mich denkt. Ich habe euer Leben zerstört. Ich kann nicht normal sein, nur so ist das alles zu erklären.“

Und ja, er hatte ihr Leben zerstört. Von einem Augenblick auf den anderen war nichts mehr, wie es war. Von einem Augenblick auf den anderen war der wichtigste Mensch in ihrem Leben, ihr Halt, ihre Zukunft gegangen. Hatte sich selbst zerstört und damit alles, was Wert für sie besessen hatte.

Ja, Mutter hatte noch Kinder. Doch Vater war das Zentrum ihrer Welt gewesen. Und nun war er nicht mehr da.

Er hatte sich nichts anmerken lassen. Er hatte ihr einen wunderschönen Hochzeitstag versprochen. Und dann hatte er sie für immer verlassen.

Während mich die Wut überflutete, saß Mutter jeden Morgen auf seiner Bettseite und rauchte. Sie blickte aus dem Fenster und bewegte den Oberkörper vor und zurück. Der Schmerz zerriss sie. Die Schuld. Die Frage, was sie hätte tun können, damit er geblieben wäre. Es würde niemals eine Antwort darauf geben. Selbst die hat er ihr verweigert. Immer und immer wieder erlebte sie in Gedanken ihren vierzigsten Hochzeitstag. Minute für Minute. Und versuchte verzweifelt, die Vergangenheit zu verändern.

Es war nicht das erste Mal im Leben meiner Mutter, dass ein Bett leer blieb.
Das Kinderbettchen von Astrid blieb leer, nach drei Wochen, die sie mit Mutter zusammen war. Der Grund wurde nie geklärt. Mutter hatte davon gesprochen, dass Astrid im Krankenhaus nicht richtig ernährt worden war. Hatte sie selbst stillen können? Wir hatten niemals darüber gesprochen. Astrid war ein solches Tabuthema in unserer Familie, dass ich mich vor zehn Jahren auf die Suche machte und nach ihr recherchierte. Alles, was ich erhalten konnte, war ein Eintrag im Register des Standesamtes Berlin: Astrid war im Dezember 1957 geboren und im selben Monat gestorben. Es war das Einzige, das von ihrer Existenz geblieben war. Ein Grab gab es nicht.

Dreizehn Jahre später blieb wieder ein Bett leer. Diesmal hatten meine Mutter und Jörg zehn Jahre Leben miteinander geteilt. Ein kleiner Junge, eine große Liebe. Dieses Mal gab es ein Grab. Doch auch hier bleibt der Tod des Kindes ein Tabu, ein Familiengeheimnis, in das ich niemals eingeweiht wurde.

Ein Klingelstreich, eine rote Ampel. Ein Autounfall. Das sind die Fragmente, auf denen meine Existenz beruht.

Ich kann mir vorstellen, wie Mutter wieder am Fenster saß und rauchte und den Oberkörper vor und zurückbewegte. Die Frage, was hätte sie tun können, um den Tod von Jörg zu verhindern. Schuld. Überlebensschuld. Und sicher erlebte sie in Gedanken jenen Tag immer und immer wieder.

Einige Jahre nach dem Tod von Vater verabredete sich Mutter wieder mit Männern. Sie traf sich mit ihnen im Restaurant und stand kurz nach dem Kennenlernen wieder auf und ging: Die Art, wie ein Mann sprach, wie er ihr aus dem Mantel half, vielleicht auch nur, wie er sich eine Zigarette anzündete – sie war nicht die Art, wie es Vater getan hatte. Sie konnte es nicht ertragen.

Einige Jahre nach dem Tod von Jörg kam ich zur Welt. Ein anderes Kind lag nun neben ihr. Die Art, wie ich mich verständlich machte, wie ich die Augen aufschlug, wie ich sie zu umarmen versuchte: Es war nicht so, wie Jörg es getan hatte.

Enge

Tagsüber analysieren wir die Welt. In der Nacht hören wir Metallica. Wir sitzen vor den Bildschirmen und halten Feuerzeuge in die Höhe wie zwei Teenager.

So close, no matter how far
Couldn’t be much more from the heart.
Forever trusting who we are
And nothing else matters…

Dann kommt Stephan nach Argentinien. Er bleibt bis zum Winter.

In Deutschland geht es auf den Sommer zu. Ich packe meine Koffer und räume sie wieder aus. Sortiere Pullover und Blusen neu ein. Streite mich mit der Fluggesellschaft und lenke mich mit tausend Kleinigkeiten ab.

»Wir werden erwartet«, sagt Stephan. »Sie freuen sich auf dich.«
Aber es gibt Gerüchte. Ob es Vorbehalte gegen mich gäbe, wird in der Gemeinde gefragt. Nein, nichts Persönliches. Nur – das Trauerjahr sei doch noch nicht vorbei.

Am Abend lesen wir einander vor. Und wieder reden wir, so lange, bis einer von uns einschläft. Auch wenn mir die Augen zufallen, gebe ich mir Mühe, wach zu bleiben. Dass mir nur kein Wort verloren geht. Ich liebe Stephans Stimme, seinen Mund, die Art, in der er seinen Arm um mich legt.
»Hör nicht auf, bitte. Erzähle mir noch einmal…«
»Jetzt schlaf, es ist schon spät.«
»Wenn ich die Augen schließe, sehe ich dich nicht mehr.«
»Ich bin da, und ich bleibe es auch.«
»Stephan, ich kann das nicht glauben. Ich habe so etwas noch nie erlebt.«
»Ich glaube, das war alles Vorbereitung. Sechzig Jahre Vorbereitung, um endlich an der Seite der Liebe meines Lebens einzuschlafen.«
»Und dann macht man am nächsten Morgen die Augen auf. Und der andere ist immer noch da.«

Wir bestellen das Aufgebot. Strahlend blond sind meine Haare auf den Fotos, die wir mit den Einladungskarten versenden. Lässig im T-Shirt trägt Stephan ein Lederband mit einem Fossil aus Argentinien um den Hals. Er sieht jünger aus. Wir strahlen in die Kamera, fühlen uns wohl in unserer Haut. Eine Zukunft liegt vor uns, Projekte in Argentinien und in Deutschland. Wir schauen in die gleiche Richtung.
»Das Leben ist wunderbar mit dir. Du bist es.«
»Das würde für ein Leben schon reichen, aber es geht noch weit darüber hinaus.«

In meinen Albträumen verschwindet Stephan über Nacht.
»Soweit es in meiner Macht liegt, wird das nie passieren. An deiner Seite auf dem Weg zu sein, das ist mehr, als ich mir je erträumt habe.«

Doch dann wird die Gemeinde direkter: »Stephan, erinnerst du dich eigentlich noch an deine Frau? Sie hatte nicht gewollt, dass du so bald wieder heiratest. Aber sie kannte dich ja.«

Unsere Spaziergänge werden kürzer. Meine Hüfte schmerzt bei jedem Schritt. »Das ist etwas Altes«, meint der Orthopäde. Die Spritzen helfen nicht gegen die Schmerzen.

„Frances, vielleicht solltest du dir eine andere Gemeinde suchen? Jeder sieht in dir ohnehin nur die Andere.“

Ich fühle mich, als hätte ich sie auf dem Gewissen. Ich sollte hier nicht sein. Mein Koffer steht noch im Flur. Argentinien.
Nachts rolle ich mich in Stephans Arme.
»Vielleicht sollten wir das Aufgebot wieder abbestellen?«
»Das kommt überhaupt nicht in Frage«, antwortet er.

Dieses Mal geht es nicht nur um uns. Es geht um mehr: Es geht um Liebe, um Glaube. Es geht um eine Daseinsberechtigung.

Vielleicht ist es gar nicht so wichtig, im Einzelnen zu schildern, was danach geschah. Die theologischen Diskussionen. Das Tribunal, das nicht stattfand. Das Hausverbot für Stephan und mich in der Gemeinde, Freunde, die uns von einem Moment auf den anderen den Rücken kehren.

Und ein Satz der in den Magen geht: Es täte einfach zu weh, mich an der Stelle der Verstorbenen zu sehen. Ich solle es verstehen.

Was da klingt, ist etwas anderes: »Warum lebst du und nicht sie? Du bist hier nicht erwünscht.« Diese Stimme ist alt. Es soll Eltern geben, die sich wünschen, das Ersatzkind wäre tot.

Elternbilder – Gottesbilder: Warum lebst du und nicht er? Und nun hat all das doch etwas mit Gott zu tun.

Erinnerung

Ich schließe die Augen und sehe Jesus. Er streckt die Hand aus: „Komm!“

„Jesus, das geht nicht. Schau auf mein Leben, das war übel, sieh dir an, was ich für ein Wrack bin. Jesus, ich kann das nicht.“
Er steht einfach da. Und wartet.

Es ist meine Entscheidung.

Aufbruch

Stephans Augen wirken dunkler im Kerzenlicht. Er räuspert sich kurz, dann setzt er an, mit klarer Stimme:

»Wisst ihr, was wir heute feiern? Ihr sagt, wir feiern Hochzeit. Oh, nein. Heute geht es um viel mehr als das. Heute feiern wir, dass die Liebe siegt. Sie siegt über Vorbehalte und Vorurteile. Borniertheit und Engstirnigkeit. Sie siegt über Gewalt, Lügen und Missbrauch. Die Liebe siegt immer. Wer sich ihr in den Weg stellt, ist schon gescheitert. Wo zwei Menschen sich in Liebe begegnen. Wo Schranken fallen. Wo Vertrauen wächst. Da geschieht etwas Gewaltiges. Da geschieht etwas, das größer ist als wir. Da entfaltet sich Leben. Da wächst Kreativität. Da bricht etwas Ewiges hinein in unsere kleine Welt. Da werden wir transzendiert und transformiert. Da wachsen wir über uns selbst hinaus.

Zu mir kam die Freiheit. Die Weisheit. Das Leben. Die Liebe. Zu mir kam Frances. Ihr Lieben, unsere Freunde, zelebriert das Leben in all seinen farbreichen Facetten. Schaut durch das Kaleidoskop der Liebe. Und pflegt eure Beziehungen! Seid echt, authentisch und integer. Lebt liebt und feiert. Das Leben und die Liebe sind Anlass genug dafür!

So. Und jetzt schneiden wir die Torte an. Ihr seht hungrig aus.«

Zahlreiche Tische im Ratskeller bleiben leer, Essen ist im Überfluss vorhanden. Wir gehen im Hochzeitskleid und Hochzeitsanzug in die Weseler Fußgängerzone und sprechen Fremde an. Einzelne, Paare, Familien: »Wir wurden reich beschenkt. Wollt ihr nicht zu unserer Feier kommen? Es ist genug da.« Überraschte Blicke, Lächeln, Nicken. Ein kleines Mädchen staunt über mein Hochzeitskleid. Wir tanzen gemeinsam durch den Saal. Meine Gedanken schweifen zurück:

Blaugrün schimmert der Atlantik, am Horizont wechselt er in ein tiefes Blau, das sich mit dem noch immer etwas helleren des Himmels mischt. Doch schon ist der Mond zu erahnen, in seiner blassen Wölbung, fleckig, nicht ganz perfekt. Gleichmäßig rollen die Wellen heran. Sie wachsen, türmen sich auf, rollen sich zusammen und brechen in einem wilden Sprudeln an den Sandbänken. Kies und Schalen treiben an den Strand, zusammen mit Rocheneiern und Miesmuscheln, die sich rasch in der Erde vergraben und nur durch kleine Luftbläschen ihr Versteck verraten. Roséfarben strahlen die Schaumkronen im Licht der untergehenden Sonne. Ein Chimango kreist ruhig über dem Strand, die braunen Flügel weit ausgebreitet. Bereit, die Reste aufzunehmen, die das Meer für ihn zurücklässt. Es wird genug sein. Fischer breiten ihre Netze aus. Ein lauwarmer Wind weht von Nordost, streichelt Haut und Seele. Von Süden nahen drei Pferde im Galopp, das Prasseln ihrer Hufe wird lauter. Kindersilhouetten zeigen sich und schon rasen auf mich zu, geschickt auf zurechtgeschnittenem Schaumstoff sitzend und die Gäule mit einfachen Stricken in der Spur haltend. Sie lachen, winken kurz, die Hufe der Tiere wirbeln das seichte Wasser auf und schon sind sie wieder fort, verfolgt von Mischlingshunden, die sich von der Jagd anstecken lassen und sie eine Zeit lang begleiten. Ich nehme die Lungen voll von salziger Meeresluft und schließe die Augen. Cumbiaklänge in der Ferne feiern das Leben, während sich hinter den Dünen der Himmel golden färbt. Ich drehe mich um und gehe zurück, meine Füße versinken im Sand, süß duften die kleinen weißen Blüten an den Büschen. Intensiver als je zuvor.

»Möchtest du, dass wir das Familiengrab behalten?«, fragt mein Bruder und nippt an seinem Sekt.

Er zeigt mir ein Foto. Ich sehe den massiven Block aus roséfarbenem Marmor, in Stein gemeißelte Namen, DAHLENBURG. Koniferen und Geranien, frische Erde im Schatten hoher Kiefern, zwei Platten, die zum Inneren des Grabes führen. So schwer erreichbar waren sie für meine Kinderfüße – so winzig erscheinen sie mir heute.

»Es hätte ja sein können, dass du dich dort hättest beerdigen lassen wollen.«

Von der Hochzeitstorte ist die Hälfte übrig. Meine Schwägerin wippt mit dem Fuß zu INXS: Sucide Blonde.

Jörg, Werner, Sigrid. Mein Bruder lässt das Foto zurück in die Tasche gleiten.

Ich stehe auf und umarme eine der fremden Frauen. Ihre Tochter betrachtet lange die roséfarbene Spitze meines Hochzeitskleides, sieht dann verträumt zu mir auf. Noch einmal nehme ich die Kleine bei den Händen, drehe sie zum Takt der Musik. Sie winkt zum Abschied.

»Nein«, antworte ich und lausche kurz dem Wort hinterher.

»Nein.«

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